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Full text of "Der Kampf um die Rechtswissenschaft"

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Der Kampf um 
die 

Rechtswisse... 




Hermann 



Kantorowicz 




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Der Kampf um die 
Rechtswissenschaft 



Von 

Goaeus Flavius 

I. und a. Tausend. 




Heidelberg 1906 



K 

330 



Carl Winter*» UniTeraitlubuchhaadlunc 



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• 



Aile RMlit«, beacmdeft <U« Beoht dar Obeneuan« la ftemde SpmfllMo, 



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Inhalts^Verzeichnis. 



Sdla. 



A. Elnlettung: Das alte Ideal und die neue Bewegung • • 7 

B. Die neue Auffassung 
I. vom Recht: 

1. Auferstehung des Naturrechts aSBt,Fnkn Rechts** • . 10 

2. Arten des Freien Rechts 12 

3. Bedeutung desselben neben dem staatlichen Recht . 13 

4. Bedeutung desselben für das staatliche Recht ... 14 
Lücken im Redit 14 

5. Der imlividiielle Pakfor im Recht 16 

6. Grenzen des Rechts 17 

il. von der Rechtswissenschaft: 

1. Die Rechtswissenschaft ist voiuntaristisch .... 19 
Konstruktionen 22. 

2. Sie bt antidogmatisch 23 

Amdogie 23^ Extension 23, Fiktion 24, Ratio legis 25^ 
Geist des Gesetzes 27, System 27, Deduktion 28. 

3. Sie ist historisch gesinnt ,30 

4. Sie ist psychologisch-sozialwissenschaftlich .... 33 

5. Sie Ist antitheologisch 34 

III. von der Rechtsprechung: 

1. Verhältnis der Bewegung zu deren Postuliten • . . 38 

2. Postulat der Staatlichkeit ...39 

3. Postulat der iVlotiviertheit 42 

4. Postulat der Voraussehbarkeit 43 

& i>08tulat der Objektivitit 43 

& Postulat der Wissenschaftlichkeit 43 

7. Postulat der Affektiosigkeit 43 

8. Postulat der Volkstümlichkeit 44 

9. Postulat der FachÜchkeit 45 

10. Postulat der Unparteilichkeit 46 

n. Postulat der Qereditigkeh 46 

C. ScMiiI: Die Bewegung historisch betntchtet .... 48 
Anhang: Literatur der freirechtUcheii Beweffing SO 



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Vorwort. 



In die Rechtswissenschaft ist eine neue Bewegung ge> 
kommen. Sie mahnt zur Selbsterkenntnis alle Juristen, 
welche wähnen, ihr Tun befinde sich mit ihren Idealen im 
besten Einklang. Sie durchschaut und zerstört diesen Wahn; 
und unternimmt es nun, im Lichte neuer, minder beschei- 
dener Ideale unser aller stetes Tun, die RechtsschÖpfuiig, 
vor uns selbst zu rechtfertigen. Doch so vernehmlich unsere 
BewegVQg sich auch gleichzeitig auf veischiedensten OeUeten 
anicfindigl — noch fehlt es ihr an Geschlossenheit und an 
dem Bewußtsein ihrer iMacht Deshalb sei hier der Versuch 
gewagt, all* Ihre besten Krifle zur Einheh zusammenzufassen, 
ein Versuch, der bewufit hinwe^ht über alles, was die 
einzelnen Schriftsteller voneinander scheidet, einer Einheit, 
die nicht erwartet, ais das System auch nur eines von 
ihnen oder als das Programm ihrer aller anerkannt zu 
werden, und daher unter eigener Verantwortung auftritt. 

Begriffh'che Klarheit bis ins letzte darf nicht gefordert 
werden; noch keine junge Bewegung hat genau gewußt, was 
sie gewollt, genau gewollt, was sie erreicht hat. Auch wolle 
man nicht von einer Schrift, die das weiteste Feld in der 
kfineesten Zelt durcheilen muf^, verlangen, dafi alles bedächtig 
begründet und allseitig entwidcelt sei; wir mOssen uns be- 
gnügen, auf das von der Feder der Gesinnungsgenossen 
schon Geleistete und noch zu Erwartende zu verwdsen, und 
sind nur da etwas ausf&hriicher geworden, wo wir Ebenes 



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und Neues zu Meten hatten» z. B. in der Auffassung des 
Natnrrechls, in der Hervorhebung des voluntaristischen JMo- 
mentes, in den logischen und theologischen Erörterungen. 
Endlich sei anderen iU>eriassen, im einzelnen die Verdienste 
aufeuzeigen, die dieser und jener im Reich der hier voige^ 
tragenen Gedanken als Urheber zu beansprachen hat 

Möge diese Schrift neue Streiter werben für den Be- 
freiungskampf der Rechtswissensdiait, für den Sturm aui die 
Jetzte Bastion der Scholastik. 

Deutschland, im Februar 1906. 



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Einleitung. 

Die herrschende Idealvorstellung vom Juristen ist die: 
Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, 
sitzt er, bewalhiet bloß mit einer Denkmaschine, freilich einer 
von der feinsten Art, in seiner Zelfe. Ihr einziges Mobihar 
ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm 
hegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen 
oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist 
er imstande, mit Hülfe rein logischer Operationen und einer 
nur ihm verstandlichen Geheimtechnik, die vom Gesetzgeber 
vorherbestimmte Entscheidung im Gesetzbuch mit absoluter 
Exalctheit nachzuweisen. 

Entstanden ist dieses Ideal, das den Römern der g^ten 
Epoche fremd gewesen, in den Zeiten ihres tiefen politischen 
NiedeiSEUiges, unter der Gewaltherrschaft gottähnlicher Impe- 
nloren. Mittelalter und Renaissance haben es in der 
Theorie Qbemommen, aber in der Praxis und teilweise auch 
in der Gesetzgebung unbedenklich verleugnet, I^'chtern und 
Gelehrten die Fort- und Umbildung des Rechtes überlassen. 
Erst der zentrahs tische Beamtenstaat des modernen Absolu- 
tismus hat dem byzantinischen ideal wieder Wirksamkeit ver- 
liehen und ihm in Montesquieus Lehre von der Trennung 
richterlicher und gesetzgeberischer Gewalt die erwünschte 
Grundlage verschafft Wie gänzlich man aber fehlgegangen 
war, als man diese Lehre und ihre Anwendung in Englands 
Rechlsleben hineingesiet hatte, beweist die freie Stellung* 



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die dort dem Richter seit j^er eing^uint wurd^ und der 
Horror, den die Völker des angelsSchsischen Kititurkfeises 
noch heute vor Jenem Ideal empfinden. Das kontinentale 
Europa dagegen hat es nicht nur sich zu eigen gemacht, 
sondern geradem in den Atittdpunkt seiner politischen Ober* 
Zeugungen geruckt und mit den stärksten Sicherungen halb 
religiöser Weihe umgeben. An Widersachern hat es freilich 
nie gefehlt» zumal in Frankreich ; doch auch in Deutschland 
sind einige zu nennen: unter den Nachzüglern des Natur- 
rechts besonders Klrchmann, und, aus völlig anderen Mo- 
tiven, die katholischen Rechtsphilosophen; sodann Jhering in 
seiner letzten Periode, der aber, wie ein Meteor vorüber- 
ziehend, wohl tiefen Eindruck, doch auf diesem Gebiete 
keine nachhaltige Wirkung erzielt hat Auch später sind 
Pred^er in der Wiiste au^etreten, besonders Kohler, 
Bfilow (Gesetz und Richteramt, 1885) und G. Rümelin 
(Werturteile und Willensentscheidungen, 1891). Doch erst 
in den letzten Jahren hat sich die Lage gründlich geändert 
Seit Stammler die Barke der Rechtsphikisophie wieder flott 
gemacht und Ehrlich ihr Steuer auf das neue Ziel gerichtet 
hat, erheben sich von allen Seiten, aus Theorie und Praxis, 
in Rechtphilüsophie und Jurisprudenz, im öffentlichen und 
Privat-Recht, in Deutschland und Frankreich Stimmen, die, 
täglich an Zahl und Entschiedenheit zunehmend, der Juris- 
prudenz die Umkehr predigen. Diese neue Bewegung, die 
wir neu deshalb nennen dürfen, weil sie nicht mehr in Form 
vereinzelter Stimmen, sondern zum ersten Male als Bewegung 
auftritt und das Merkmal feder echten Bew^og aufweist, 
nämlich die Duplizitflt fäst aller ihrer »in der Luft li^Men" 
Gedanken, hat nicht weniger zum Ziel, als das gjuize bis- 
herige Ideal abzutragen und ein in allen Punkten entgegen- 
gesetztes aufzurichten. So scheint sie denn radikal und als 
solche durch Verständnisiosigkeit historischen Werten 
gegenüber, wie jeder I^dikalismus, zum Scheitern ver- 



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verurteilt Aber es scheint nur so, denn übereinstininiend 
finden wir die Oberttugun^ daft der Kampf nicht Iconsdtn- 
tive, sondern deklarative Bedeutung hat, daß nur anerlcannt 
werden soü, was unbewofit — wenn auch eben deshalb un* 
vonkommen — stets und überall ^übt worden Ist, daß es 
nur gilt: auszusprechen was Ist 

Wir haben Im Anhange die Schriften zusammengestellt, 
in denen die Freunde unserer Bewegung sich ex professo 
geäußert haben — unter Ausschluß der älteren, mit ihr in 
keinem nachweisbaren Zusammenhang stehenden, weiter 
derjenigen, die unbedeutend oder gar geeignet sind, sie zu kom- 
promittieren, ferner der von den Voraussetzungen der katho- 
lischen Rechtsphilosophie ausgehenden, endlich jener zweifel- 
los zahlreichen Schriften, die uns infolge des bedauerlichen 
Mangels rechtsphilosophiScher BibUographien und Zehscbrif- 
ten nicht bekannt geworden sind. 

Aber weit wichtiger noch als die Zustimmungen der 
Gelehrten erscheint die Tatsache, daß unter Richtern und 
Anwälten tausende der neuen Auffassung zugeneigt sind, 
eine Tatsache, die nur deshalb nicht greifbar hervortritt, weil 
jene Praktiker es leider nicht der Mühe für wert halten, sich 
für die ihnen seit jeher selbstverständlichen Lehren zu er- 
hitzen. 

Betrachten wir nunmehr in drei Stufen diese neue 
Auffassung von Recht, Rechtswissenschaft und Recht- 
sprechung — unter Ausschluß der neuen Gedanken über 
Wesen und Technik der Gesetzgebung, zu deren Theorie be- 
klagenswerterweise, trotz der Verdienste Zitelmanns und 
Kohlers, kaum Fundamente gdegt worden sind. 



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Die neue Auffassung, 

Die neue Auffassung vom Recht stellt sich dar 
als eine Auferstehung des Naturrechtes in veränder- 
ter Gestalt. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts, der 
sich gerade an der Überwindung des Naturrechts entwickelt 
hattCi hat die Überzeugung zum Dogma erhoben, daß es 
kein anderes Recht gebe, als das vom Staate anerkannte. 
Aber bei aUer Verfolgung des Naturrechts bis in seine letzten 
Schlupfwinkel hinein hatte man sich von dem Oedanken 
leiten lassen, die Naturrechtslehre sd zu verwerlen, weil sie 
von einem überall und ewig geltenden, nicht staatlich be- 
dingten Rechte, also einem Unding, triumte. Bei der Ver- 
nichtung dieser Vorstellung aber merkte man nicht, daß da 
mit nur eine völlig nichtssagende Beschreibung geliefert sei, 
daß man am Naturrecht nur charakterisiere, was es nicht 
war, weil es dies, nach Voraussetzung, gar nicht sein konnte: 
nämlich das vergebHch erträumte, unveränderliche Recht 
Was nun aber jene in tausend Werken niedergelegte Ge- 
dankenwelt wirklich war, diese Frage wurde nicht gestellt 
Und doch bedarf es nur dieser Zurechtrückung, um zu er- 
kennen, wie simpel die Antwort ist: nämlich, daB das Natur- 
recht ein Recht war, welches unabhängig von staatlicher 
Macht zu gelten beanspruchte. Indem wir jedes solches 
Recht als Freies Recht bezeichnen, dürfen wir auch das 
Naturrecht sofort und zunächst als eine besondere Art freien 
Rechtes charakterisieren. Seine Charakterlsienii^ dagegen 



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als allgemein gültiges RecM eiigreifl nicht das Naturrecht 
selbst, sondern die Aulfassung desselben durch die Natur* 
rechtler, weiche, in der Annahme der Möglichkeit eines 
solchen Rechtes nicht als Juristen, sondern, der Zeitanschau- 
ung folgend, als Philosophen irrten. Ihr Recht selbst aber 
war (wie Qlerice und Landsberg gezeigt haben) historisch 
und individuell fest bedingt, wie nur irgendeines. Diese Tat- 
sache, sowie die weitere, daß ihre philosophische Anschau- 
ung auf ihr juristisches Tun rückwirkend einen modifizieren- 
den Einfluß haben mußte, ist es, die das Naturrecht von 
andern heutigen Formen freien Rechtes in hier nicht näher 
auszuführender Weise gründlich unterscheidet 

Haben wir so das Naturrecht von seiner eigenen Theorie 
gesondert, so erscheint unsere eingangs aufgestellte These 
gerechtfertigt. Denn ob wir nun blicken auf Stammlers 
„Richtiges Recht**, auf Ehrlichs „Freie Rechtsfindung", auf 
Mayers „Kulturnormen", auf Wurzeis „Projektion", auf 
Stampes »Interessen wägung*, auf ROmelins „Werturteile**, 
immer werden Sätze herangezogen, die bestimmt sind, staat- 
liches Recht zu bewerten, zu eiglnzen, fortzubilden ,oder 
umzustoßen. Sfttze, die, then dieser Funktionen wegen, 
nicht staatliches Recht sein können, aber Recht und also 
freies Recht sein müssen. Wir können freilich niemandem 
das harmlose Vergnügen rauben, nur staatliches Recht „Recht" 
zu nennen! Freilich müßte man sich dann unter anderem 
dazu bequemen, allen Schriften über ein Gesetzbuch, das 
noch nicht in Kraft getreten, und allen Erörterungen de lege 
ferenda den Charakter juristischer Arbeiten abzusprechen, 
müßte das Naturrecht und überhaupt fast die ganze Rechts- 
geschichte — aus der Rechtsgeschichte herauswerfen, am 
Problem des Gewohnheitsrechts scheu sich vorbeischleichen 
und endlich für freies Recht einen neuen Namen erfinden 
und es einem neuen Begriffe unterordnen: denn von JMoral 



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und Sitte unterscheidet es sidi genau so gut (oder genau 
so sditecht) wie das sfaatKclie. 

Ist somit auch unser freies Reclit in diesem einen Haupt- 
punkte dem Naturrecht wesensverwandt, so scheidet, um es 
nochmals zu betonen, schon die Auffassung vom Rechte 
unsere Bewegung auf immer von der des Naturrechts. Denn 
iür uns, die wir den Denkern des 17. und 18. Jahrhunderts 
die juristisch wertvollen Erkenntnisse absehen können, ohne 
ihre metaphysischen Irrtümer übernehmen zu brauchen, für 
uns Söhne des 19. Jahrhunderts ist die Weit die ewig sich 
wandelnde und entwickelnde, ist unser freies Recht— so ver- 
gänglich, so zerbrechlich wie die Sterne selbst Und auch 
in einer zweiten Hinsicht ist unsere Auffassung vom Recht 
der des Naturrechts entgegengesetzt Die historische Schale 
hat uns gelehrt alles Recht also auch alles freie Recht, nur 
wenn es .positiv" ist als solches anzuerkennen; uns ge- 
lehrt dafi kein Recht „von Natur* besteht sondern nur, 
wenn und insoweit eine jVlacht, ein Wille, eine Anerkennung 
hinter ihm steht. Unser freies Recht also ist Naturrecht 
— des 20. Jahrhunderts; unsere Rechtsphilosophie hat mit 
der Pufendorfs und Wolffs wenig gemein. 

Indem wir nunmehr den gleichen Einteilungsgrund, mit 
dem wir freies und staatliches Recht gesondert, auf freies 
Recht anwenden, erkennen wir als seine zwei Hauptformen 
individuelles Recht und Gemeinschaftsrecht, je nach- 
dem ein Individuum «einen Rechtssalz anerkennt auf Qrund 
seiner eigenen Überzeugung oder auf Qrund deijenlgen einer 
Gemeinschaft — wobei es nicht ausgeschlossen ist dafi 
der gleiche Rechtssatz in beklen Formen und außerdem noch 
als staatliches Recht vorkommt Das Verhütnis der Heri^ 
Schaftsgebiete des individuellen und des Gemeinschafts-Rechtes 
ist ein großes, ungelöstes Problem, daher auch wir im 
folgenden meist nicht näher angeben wollen oder können, 
um welche der beiden Arten freien Rechtes es sich handelt 



Soviel aber dürfte feslslehen, daß individuelles Recht für die 
Rechtswissenschaft, Qemdnschaflsrecht für die Rechtsprechung 
größere Bedeutung hat (wobei wir auf des letzteren nahe Be- 
gehung mmCewohnheitsrecht hier nur hinweisen Icdnnen). Von 
einem anderen Prinzip aus geht die Einteilung auf gelten- 
des und nicht geltendes Recht Eigenschaften, die sowohl 
staatlichem als freiem Recht zukommen können, oder auch 
nicht. Anerkennen, und befolgen wollen oder können, sind 
zweierlei. Im folgenden werden wir unsere bisher namen- 
lose Bewegung, nach Analogie von freireligiös, als die 
freirechtliche Bewegung bezeichnen. 

Und dieses freie Recht, das so unverhofft aus der Ver- 
schollenheit In die Rechtstheorie zurückkehrt, erweist sich 
sofort als dem staatlichen Recht an Macht und Einfluß sum 
mindesten ebenbürtig. Es hat zunächst vor diesem den 
großen Voizqg voraus, daß man es Icennt Das staatliche 
Recht aber kennt man g^micht, oder, worauf besonders 
M. E. Mayer hingewiesen, nur dann, wenn es mit jenem 
übereinstimmt, was glücklicherweise häufig der Fall Ist Hier 
stoßen wir auf die erste jener riktioncn, auf denen, „Platz- 
haltern einer besseren Einsicht" (Merkel), das Gebäude unserer 
Rechlsauffassung bisher ruht: auf die Fiktion, daß das ganze 
staatliche Recht jedermann bekannt sei. Diese Fiktion wider- 
spricht den Tatsachen auf die krasseste Art. Die Wahrheit 
ist, daß niemand das ganze Recht in seinem unübersehbaren 
Umfang kennt, wenige einen Teil, die meisten nichts von 
ihm kennen. So wahr ist dies, daß, wenn ein Privatmann 
gründliche Kenntnis des staatlichen Rechtes erworben hat, 
er meist zur Klasse der dunklen Ehrenmänner gehören wird. 
Der Wucherer, der Kriminalstudent, der Revolveijournalist, 
der Qröndungsschwindler kennen die sie interessierenden 
Bestimmungen genau ; der Großkaufmann, der Künstler, der 
Offizier, der Staatsmann, der Ehemann haben nur verein- 
zelte Kenntnisse sogar der Paragraphen des Handels-, Autor> 



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Staats-, Völker- und Famtlienrechts» ohne durch solche Igno- 
ranz in ihrem Tun gestört zu werden. Der Reisende im 
fremden Lande macht sich mit Sprache, Geschichte, Kunst, 
Sitte des Volkes vertraut, seine Gesetzbücher auch nur auf- 
zuschlagen, fallt Icdnem im Traume ein. Sie alle leben 
nach freiem Rechte, nach dem, was die Satzung ihres Krei- 
ses oder ihr individuelles Urteil als Recht — nicht als Will- 
kür, nicht als Nutzen — erscheinen läßt 

So zieht das freie Recht seine mSchtigen Kreise und 

lebt unabhängig vom staatlichen. Aber nicht so dieses von 
jenem! Das freie Recht ist der Boden, aus dem staatliches 
Recht hervorgeht: fast alle gesetzt^eherischen Gedanken haben 
vorher als Sätze freien Rechtes existiert. Alle Kritik des 
staatlichen Rechtes, aus der seine Fortbildung erwächst, muß 
begriffsnotwendig den Maßstab freiem Recht entnehmen (wo- 
zu für den Kritiker auch fremdstaatliches Recht gehört). 

Aus ;freiem Recht endlich muß das Gesetz in sich ge- 
schlossen werden, müssen seine Lucken ausgefüllt werden. 
Hier stoßen wirauf dasI>ogma von der LfickenlosigKeit des Ge- 
setzes, das seinen monumentalen Ausdruck gefunden hat in dem 
berühmten Art 4 de Code civil: „Le juge, qui refusera de 
juger, sous pr^texte du sflence, de Tobscurit^ ou de l'insufR- 
sance de la loi, pourra fitre poursuivi comme coupable de d^ni 
de justice". Mit der Leugnung der Existenz freien Rechtes näm- 
lich ist die Behauptung der Existenz von Lücken unvereinbar, 
man muß bei diesem Standpunkt einfach zu dem Ergebnis 
kommen, daß stets, wo das Gesetz keine Entscheidung bietet, 
Abweisung der Klage oder Freispruch zu erfolgen hat. Von 
Lücken und deren Ausfüllung dürfte da gar keine Rede sein 
^itelmann). Wer von ihnen spricht, meint, daßnach freiem Recht 
eine Entscheidung geboten ist, die nach staatlichem Recht 
nicht gegeben ist, ohne dafi angenommen wird, daß der 
Gesetzgeber bewußter Weise in diesem Fall auf Freisprach 



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IS 



oder Abweisung erkannt wissen wollte. So bedeutet denn 
schon die veibreHete Theorie, welche tficken im Qesets zu- 
gibt, aber Ihre AusfOllnng mit den JMitlehi der Dogmatilc 
verlangt und erwartet eine Konsessibn an unsem Standirankt 

Aber diese Konzession darf uns niciit genügen. Denn nicht 
so liegt der Sachverhalt, daß Lücicen im Gesetz sich hier 
und da wohl vorfinden, nein, getrost darf man behaupten, 
daß nicht weniger Lücken als Worte da sind. Kein einziger 
Begriff ist bis in seine Urmerkmale zerlegt, wenit^e nur sind 
definiert und diese wenigen wieder nur durch andere, selber 
Undefinierte E^ffe. Nur ein unwahrscheinlicher Zufall kann 
es daher fügen, daß ein Rechtsfall so gelagert ist, daß sämt- 
liche auf ihii anzuwendende Rechtsbegriffe mit ihren fest 
bestimmten Bcgriffskemm statt nur mit ihren schwimmen- 
den Konturen auf ihn enttaUen. Bei dieser Sachlage wire 
der Ausweg, die Lücken durch die Mittel der Qesetzesinter- 
pretation aussuföllen, auch dann ungangbar, wenn diese Mittel 
weniger untauglich wiren, als sie sich tatsSchlich bald er- 
weisen werden. Nur freies Recht, mit der Spontaneität seiner 
Entscheidungen und der gefühlsmäßigen Deutlichkeit seiner 
Inhalte angesichts des einzelnen Rechtsfalles, kann diese 
Ausfüllung bringen und hat sie in der Tat stets gebracht. 
Daß der die Lücken ausfüllende Jurist eine solche das Ge- 
setz unleugbar abändernde Tätigkeit für unzulässig hält, sich 
dieser ihrer Eigenschaft auch gar nicht bewußt wird, ändert 
an der Tatsache nichts. Und wenn der jüngste Lücken- 
theoretiker, Zitelmann, diese abAndemde Tätigkeit des Rieh* 
tos hocherfreulicherweise gutheißend, den Ausdruck «Ab- 
änderung* glaubt «verbessern* zu müssen, weil ihm «hierbei 
das Gewissen schlagt*, so Ist seine Einschränkung mit jenem, 
dem juristischen Praktiker so geläufigem Auguren-Lächeln 
aufzunehmen: denn statt daß zur Lückenausfüllung ein „bereits 
vorhandener, wenn auch vielleicht unbekannter** staatlicher 
Rechtssatz verwandt wird, wird die Lücke durch freies Recht 



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t6 

iii9gef&llt und dieses dann nachträgUch, zur frendi^en Über- 
raschung aller, als staadiches, «wenn auch vielleicht unbe- 
kanntes" Recht erkannt 

Aber auch wir müssen uns hier verbessern, wollen wir 
nicht in den Fehler jener Freunde unserer Bewegung ver- 
follen, die an Stelle des Dogmas von der Lfickenlosi^ceft 
des Gesetzes das Dogma von der Lückenlosigkeit des 
Rechtes, sei es auch des freien Rechtes, setzen wollen. Wir 
behaupten demgegenüber, daß viele Rechtsfälle überhaupt 
keine rechtliche Lösung zulassen. Wir lassen zunächst die 
schwierige, vielleicht sogar sinnlose Frage unerörtert, ob es 
nicht möglich sei, daß freies Recht Lösungen enthalte, ohne 
dafi wir lähig wären« diese Lösungen zu erkennen. Weiter: 
angmommen selbst, daß freies Recht stets eine erkennbare 
Lösung bietet, so ist es doch nicht im entferntesten sicher, daft 
diese Lösung eine allgemein gültige sein wird. Umgekehrt 
folgt daraus, daß, wie niemand leugiiet, die Menschen ver- 
schieden sind, auch dies, daß unsere Verschiedenheit, besonders 
soweit sie die Rang^chätzung der Lebenswerte betrifft, sich in der 
verschiedenen Lösung wenigstens eines Teiles der Fälle aus- 
drücken muß. Wirklich beweist denn auch der Stand der 
meisten Kontroversen, daß sie im Lauf der Zeit wohl ihr 
Gesicht ändern, ihrer Lösung aber nicht näher kommen. 
Und wie sollte es anders sein, da doch der individuelle 
Faktor sich in jeder Hinsicht, selbst an den Beispielen, mit 
denen operiert wird, geltend macht Erleben wir doch immer 
wieder, daß der Eine jene Theorie vorzieht, bei derea 
Anwendung sich die ihm genehme Lösung des Schul- 
fatles ergibt, während der andere eben deshalb die hierzu 
führende Theorie verwirft, weil er die entgegengesetzte 
Entscheidung wilL Man denke an das Problem des «an* 
tauglichen Versuches*. In einer Zeit, die fibeiall den indi- 
viduellen Paktor mächtig zur Geltung bringt, konnte nur eine 
der geistigen Bewegung stets nachhinkende Wissenschaft,. 



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wie die Jurisprudenz, dieses Element vollkonimen außer 
Acht lassen. Und doch wird die Meinung sich durchsetzen 
mfissen, daB auch über Rechtsh^gen so wenig ein uber- 
einstimmendes Urteil aller verlangt und erwartet werden 
darf, als jemand genötigt werden kann und darf, eine Hand- 
lung als gut, ein Kunstwerk als schön anzuerkennen, wenn 
seine abweichende Individualität eine abweichende Reaktion 
seines Gefühls mit Notwendigkeit herbeiführt. 

Aber selbst die Hoffnung auf eine solche, wenn auch 
nur subjektive Losung aller Rechtsfragen ist prinzipiell auf- 
zugeben. Auch hier stoßen wir auf eine unerh-euliche Ej^n- 
tümlichkeit der Jurisprudenz, auf den »juristischen Qrdfien- 
wahn*. In keiner theoretischen, in keiner praktischen Wissen* 
Schaft besteht die Ansicht, daß sie Je imstande sein kOnnte, 
geschweige denn schon jetast imstande wäre, jedes erdenk- 
liche Problem lösen zu können. Der Btologe, der Philologe, 
der Geschichtsforscher, der Kunsthistoriker, der Astronom, 
der Ästhetiker leugnen keinen Augenblick, daß sie von den 
an sie zu stellenden Fragen nur einen winzigen, im Vergleich 
zur Gesamtheit verschwindenden Teil beantworten können, 
und nicht nur was das Detail anlangt, sondern vielfach auch 
in betreff der wichtigsten Grundfragen und Theorien. Mit 
Entriistung gar würden sie es ablehnen, im Examen schon 
jede erdenkliche biologische, historische, physikalische u. s. w. 
Frage beantworten zu können (z. B.: wie hoch die Tem- 
peratur des Sterns Alpha im Schwan sei? was geschehen 
wäre, wenn Ramses der Große Amerika entdeckt hfttte? 
wie, wann und wo diö, gefällt aufinizflhlenden, Gemfikle des 
Apdles untergegangen seien? wie sich der optische Eindruck 
im Sehnerven fortpflanze, und wie er sich zur Wahrnehmung 
ausgestalte? ob die Instrumentation bei Beethoven den 
Schönheitsgesetzen in höherem Maße entspreche als die Ge- 
wandbehandlung bei Skopas? Warum der Kanarienvogel 
nicht grün sei''). Auch die stolze Mathematik bekennt, daß 

Onaeus Fiavius, Der Kampf um die RecbUwisscnacluitt. S 



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18 



sie hiiifis adion nach den eisten Schritten Halt machen rnuft» 
z. B. bei der Aaliasiing von Gleichungen höherer Qrade. 
Und sogar die Logllc sieht sich, seftdem sie fn die nurthe- 
matische Bahn gelenkt hat, an die Schwelle unlösbarer Pro- 
blemketten gestellt. Nur ganz allein die Jurisprudenz traut 
sich infoige ihrer angeblich systematischen Vollkommen- 
heit zu, jedes wirkliche und jedes denkbare Problem lösen 
zu können, und verlangt diese Fähigkeit sogarvon dem letzten 
ihrer Jünger. Und doch nicht ganz allein ! Der Quacksalber, 
der bei dem dunkelsten Fall die Diagnose und bei der ver- 
zweifeltsten Diagnose die Therapie noch findet, der Priester, 
der mit eiserner Stirn dem Beichtkind für Jede seiner Ver- 
fehlungen die von Gott gewollte Buße berechnet, sie sind 
die fatale Kumpanei, In der der dogmatische Jurist seines 
Wegs deht Statt daß man sich zunächst bei jeder Frage erst 
die Vorfrage stellt: ist unser Fall denn überhaupt lösbar? 
stjjrzt man sich blind und siegessicher in die Diskussion. 
Die Heroen der Naturwissenschaft haben nicht vermocht, 
das Problem der drei Körper zu losen, — Probleme von 
hundert Seelen löst täglich jeder Assessor. Und doch braucht 
es bei der unübersehbaren Kompliziertheit der sozialen Zu- 
sammenhänge, bei der Gegensätzlichkeit der wirtschaftlichen 
Interessen und der Lückenhaftigkeit des Qesetzestextes gar 
nicht erst ausgeführt zu werden, daß auf jene Vorfrage in 
tausend Fällen ein entschiedenes Nein geboten ist Und unser 
SIcepttzismus ist auch Problemen freien Rechtes gegenüber 
wohl am Platze, denn die Normen, in denen es sich nieder- 
1^ bilden so wenig ein System wie die des staatlichen 
Rechtes: Ergebnisse der verschiedensten Kulturepocben und 
Lebenskrefse, organisch geworden, nicht nach festem Plane 
erdacht, sind sie vielfach ungeprüft und ungeordnet im Be- 
wußtsein und Unterbewußtsein zum Gebrauch niedergelegt. 
Tritt ein vernickelter Fall mir entgegen, und versuche ich, 
ihn unter eine Norm zu bringen, so müssen — und je reif- 



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19 



Uctier die Überlegung sein wird» in desto verwirrenderem Maße 
wird dies der Fall sein so mfissen die verscUedenen Seiten 
des Falles bald die eine, bald die andere Norm In den 
Vordetgrund schieben, so daß von den bei der Entscheidung 
betroffenen Werten bald der zu verlcbEende, bald der zu be- 
tonende Wert gri^fier erscheint Das Ergebnis wird bei dem 
Ehrlichen, trotz aller schuldigen Anstrengung, ein Verstummefl 
des Rechtsgefühls sein; Normen anderer Art oder die Will- 
kür geben die Entscheidung — denn entschieden muß ja 
werden - , und nun läßt freilich die wohltätige Suggestion 
die getroffene Entscheidung als richtig, eine ihr entsprechende 
Rechtsnorm als die von Anbeginn maßgebende Macht er- 
scheinen. Von einer rechtlichen Ldsung des Falles kann da 
garnicht gesprochen werden, ganz besonders nicht dann» 
wenn, wie so häu^, das Problem im Quantitativen steclct» 
wenn entweder die von der Norm verwendeten Begriffe 
nicht quantitativ delerminierbar sind (culpa hita, grober Un- 
dank» wichtiger Qnind u. s. w.) oder die Anwendbarkeit ihrer 
B^ffe scheitern muB an der UnmeBbarkeit psychischer 
Größen und dem Mangel gemeinsamer Mafistlbe für die 
„Interessen wägung". 

Wir sind mit diesen Betrachtungen schon über die 
problematische Grenze geraten, die Recht und Rechtswissen- 
schaft scheidet, den Gegenstand von seiner Wissenschaft, die 
ihn doch zugleich zum Inhalt hat. Worin besteht die neue 
Auffassung von der Rechtswissenschaft? 

Zunächst folgt aus dem Gesagten, daß das VerhäHnis 
der Rechtswissenschaft zum Gesetz sich völlig verschieben 
muß. Ist das Gesetz in seiner Blöße enthüllt, so kann die 
Rechtswissenschaft nicht mehr sich begnügen mit der Rolle 
eines bloßen Sprachrohrs, einer in Selbstverleugnung sich 
erschöpfenden Handlangerin des Gesetzgebers: die Bedürf- 
nisse des Rechtslebens verlangen eben, weil das Gesetz sie 
nicht befriedigen kann, danach, daß andere Mächte, zunächst 

9» 



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20 



die Rechtswissenschaft, frei und schöpferisch ihr zur Seite 
treten. Mit der Wissenschaft als Rechtsquelie, diesem 
BegjnSf, mit dem die ältere historische Schule vielfach gespielt 
hat, niu6 endlich Bmst gemacht werden. Die Wissenschaft 

hat die Definitionen sämtlicher Begriffe zu liefern — nicht 
durch „Konstruktion", sondern durch Ausstattung mit jenen 
Merkmalen, welche freie Rechtssatze an die Hand geben. 
Sie hat die Lucken auszufüllen — nicht durch Verneinung 
der Ansprüche in allen Fällen, in denen das Gesetz sie 
nicht gewährt, sondern durch Bejahung in der Richtung, die 
freies Recht ihr weist. Sie hat die abgestorbenen Elemente 
des Gesetzes hinwe^uräumen und die blühenden zur Reife 
zu bringen. Mit alledem hört sie freilich völlig auf, nur 
.Erkennen des Erkannten* zu sein. Die Aufgabe, die ihr 
jetzt gesteckt ist, ist größer, weniger bescheiden geworden. 
Sie wird „freie Rechtsfindung**, wo sie Qemeinschaftsrecht 
entdeckt und zur Anwendung bringt; sie erhebt sich zu freier 
Rechtsschöpfung, wo sie individuelles Recht hervorbringt 
und ihm Geltung verschafft. Ist sie selbst Quelle des Rechts, 
so muß sie dieselbe Natur haben wie alle übrigen Quellen, 
und wie das Recht selbst muß sie Wille sein. Mit dieser 
Erkenntnis schließt sich die Rechtswissenschaft dem Zuge der 
Geisteswissenschaften im 19.. Jahrhundert an und tritt in 
ihre voluntaristische Phase. Freilich gilt es so wenig 
wie in Psychologie, Geschichte und anderen Zweigen, den 
Willen an die Stelle des Verstandes zu setzen, nein — nur 
des Willens bisher fibersehene Rolle als die in Wahrheit 
maßgebende zu erkennen. Gerade aber die Rechtswissen- 
schaft ist das Gebiet auf welchem die voluntaristisdie Auf- 
fassung ihre höchsten Triumphe feiern kann. Der Primat 
des Willens ist nirgends unbestreitbarer als hier, wie einfache 
empirisch-psychologische Beobachtimg auch den lehren muß, 
der, wie wir selbst, Schopenhauers Willensmetapliysik weit 
abweist. Der Wille, zu einer vorher gewissen Entscheidung 



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21 



ZU gelangen» ist es» welcher die Auswahl der jene Entschei- 
dungen begrfindenden Geselzesslellen In Wahrheft leitet 
Bartolus» der berOhmteste aller Juristen, ist das klasäsche 
Beikel» von dem die Geschichte berichtet» er habe erst die 
Entscheidungen gemacht und sich dann von seinem Freunde 
Tigrinius die zu ihnen passenden Corpus- Juris-Stellen aaf- 
wetsen lassen, »well er wenig Gedächtnis besessen habe". 
Freilich wird überall das Verhältnis von Wille und Verstand 
dadurch verschleiert, daß nachträglich der Verstand den 
wahren Sachverhalt gar zu gern auf den Kopf gestellt wissen 
will, und auf juristischem Gebiet noch ganz besonders 
dadurch, daß der Rechtswille — glGcklicherweise sehr häufig 
— dasjenige Resulitat verlangt, zu dem der auslegende Ver- 
stand auch ohne jene Leitung gelangen würde. Aber wer 
von beiden auf die Dauer die wahre Triebkraft bleibt, tritt 
klar zutage» sobald sich der Theoretiker oder Praktiker ver* 
pflichtet fühlt» auf Grund seines Geselzestextes ein Eigebnis 
zu deduzieren, das in einer wichtigen Frage einer michtlgen 
freien Rechtsfibeneugung ins Gesicht schlagt (»unerwünsch- 
tes Eig^nis"). Besonders zu nennen sind hier jene allbe^ 
kannten Reichsgerichtsentscheidungen, die, von 2^t zu Zelt 
auftretend, einen Sturm erregen. Dann jedesmal das gleiche 
Schauspiel ; Der Wille setzt hundert Federn In Bewegung, die 
In logisch zwingender Weise aus diesen und jenen Gesetzes- 
stellen und — wenn es sein muß — auch mit Benutzung 
altehrwGrdiger Auslegungsregeln das umgekehrte, „erwünsch- 
te" Ergebnis erzielen. Das Reichsgericht aber schließt sich 
entweder nach mehr oder minder langer Sprödigkeit der 
anderen Theorie an; oder beharrt es doch auf seinem Stand* 
punkt, so geschieht dies meist nur deshalb, weil entweder 
das freie Recht der sieben Reichsgericbtsrftle den gleichen 
Satz enthält wie ihr Gesetzestext oder well sie die erfahrungs- 
gemäß wohlbegrundete Hoffnung haben» daß gerade Infolge 
ihrer Unbeugsamkeit unsere arbeilsfrohe, wenn auch be- 



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22 



(Ulchti^ Gesetzgebung in dem gewünschten Sinne ändernd 
eingreift Wfirde, wie einst im heiligen römischen Reich, 
«fiese Maschine zu arbeiten aufhören, so würde die gesamte 
Praxis, das Reichsgericht an der Spitze, in allen Fällen über 
kurz oder lang im Sinne neuen freien Rechtes einschwenken. 
Das denkwfirdigjsle Beispiel fQr diesen durch alle Rechtsge- 
schichte bestätigten Verlauf Ist die Abschaffung der Peinlichen 
Gerichtsordnung durch die gemeinrechtliche Praxis der Auf- 
klärun^szeit. Damit fällt auch Licht aui das bekannte Pro- 
blem der juristischen Konstruktion. Sie ist 
nämh'ch nichts als der Nachweis, daß nur die An- 
wendung bestimmter Rechtsbegriffe die gewollten Rechts- 
folgen gewährt, so daß die Konstruktion die Konsequenz 
ihrer eignen Konsequenzen ist Umgekehrt besteht das 
beliebte ad absurdum-FQhren einer gegnerischen Konstruk- 
tion darin, daß man dem Widersacher vorhält, diese oder 
jene Konsequenz könne «unmöglich* vom Gesetzgeber be- 
absicht^ sein, wobei die ggnze Grundlage jener Annahme 
in der weiteren naiven und natürlich gamlcht bewußten An- 
nahme besteht, der Gesetzgeber wolle just so, wie der Redende. 
Übrigens ist es fiicht einmal nötig, die nicht gewünschten 
Konsequenzen offen als solche zu verdammen. Man begnügt 
sich meist damit, sie einfach zu entwickeln und es nun dem 
Leser zu überlassen, diese selbst und die zu ihnen führende 
Konstruktion abzulehnen und sich demgemäii für die ent- 
gegengesetzte zu entscheiden. Hat man sich aber erst auf 
eine solche festgelegt so kommt man weiter dazu, auch 
ganz unvorhergesehene und unerwünschte Konsequenzen zu 
ziehen. Fiat lusütia, pereat mundus — der Jurist bindet 
sich selbst an den Pfahl und ruft dann stolz: Hier stehe Ich, 
ich kann nicht anders. Hätte man jene Konsequenzen gleich 
erwogen, so hätte man wieder eine andere Konstruktton ad 
hoc erdacht, — Immer ist es der Wille, der den Verstand 
am Gängelbande führt. 



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28 



Mit der volnnlaristischen Strömung gjBbi natörlteh auch 
bei uns die antirationalistisclie Gesinnung Hand in Hand. 
Ist erkannt; daß die Rolle des Verstandes nicht die alldn 
maßgebende ist. so schärft 'sich auch der Bück för die 

Sünden, die in seinem Namen, im Namen der Logik, be- 
gangen worden sind. Allerdings wäre die neue Bewegung 
von vornherein der Lächerlichkeit überliefert, wenn sie etwa, 
wie Heißsporne der historischen Schule öfters taten, die 
L^gik überhaupt als wertlos abtun würde. Die Logik hat 
unweigerlich Recht. Aber was hat jene Juristen logik, wie 
sie die traditionelle Hermeneutik bietet, die jüngst Stemberg 
so glücklich an den Pranger gestellt hat. mit der Scientia 
Sdentiamm überhaupt noch gemein! Welche Gestalten 
werden für Söhne der Frau Logica ausgraben I Da ist 
z. die berfihmte, von unserer Metbodok^ ernsthaft als 
dogmatische Mediode ausführlich traktierte Juristische Ana- 
logle, jenes Verlähren, das auf logischem Wege die An- 
wendung von RecMssätzen auf ihnen nicht unterstellte, son» 
dem den unterstellten ähnliche Fälle lehrt Als ob es so 
leicht überhaupt irgendeinen Fall gäbe, der nicht mit belie- 
bigen andern irgendetwas gemein hätte, also ihnen, wenn 
auch in noch so geringem MalSe, ähnlich wäre! Man könnte 
daher last jeden Rechtssatz auf fast jeden Fall anwenden 
und käme so vom Hundertsten ins Tausendste, ohne daß je- 
mals die Grenze des Erlaubten durch die Logik gezogen 
werden könnte, die ja allem Quantitativen und Materialen 
ganz gleichgültig gegenübersteht. Und da nun auch die 
extensive Interpretation kein anderes*Motiv und Vehikel 
besitzt als die Ähnlichkeit der Fälle, unterilegt sie der 
gleichen Kritik wie die Analogie, deren Rolle man sie oft 
genug spielen läßt, wenn das Auftreten der Analogie unter- 
sagt ist (§ 2 StrQB.)! Und sie spielt sie gut *Man geht bis 
an die äuBersle Grense des Wortlautes und noch ein bischen 
weiter. Die Raritätenkabinette unserer Qerichtsarchhre wissen 



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24 



davon zu enihlen, was man alles tinter der Marke .gefilhr- 
Hches Werkzeug** konfiszieren kann! Umgekehrt denkt nie- 
mand daran, unter dem .Hersteller*, der nach § 950 BQB. 
das Eigentum an der neuen Sache durch Spezifikatfon er- 
wirbt, auch den Fabrikarbeiter oder Handwerksgesellen zu 
verstehen, denn sonst wäre eine soziaUstische Wirtschaftsord- 
nung da. Was uns in dem einen Fall extensiv oder ana- 
logisch, in dem anderen Faiie wörtlich oder gar restriktiv 
interpretieren heißt, ist eben nicht das Gesetz und die Logik, 
sondern das freie Recht und der Wille, — bald der Wille, 
erwünschte Ergebnisse zu erzielen, bald derjenige, uner- 
wünschten auszuweichen. Wir nehmen also nicht eine 
Konstruktion mit all ihren Konsequenzen an, weil sie die 
zwangloseste, logischste, naturiichste, beste ist, sondern 
umgekehrt erscheint uns eine Konstruktion als solche, 
wenn ihre Konsequenzen derart sind, daß wir sie wollen 
können. 

Auf dieselbe Weise wie die heutige Analogie läßt sich 
auch die juristische Fiktion abtun, die nichts ist als eine 
Abart der Analogie. Erträglich ist sie nur, wo sie von einem 
Volk mit konservativem Sinn, wie die Römer es waren, zur 
historischen Fortentwicklung eines Instituts verwandt wird, 
unerträglich dagegen, wo sie zur systematischen Er- 
streckung eines speziellen Rechlssatzes auf ihm nicht unter- 
stelhe Fälle benutzt wird, nur well man zu denkfaul ist, 
den gemeinsamen allgemeineren Satz auszudenken, oder weil 
man den Widerspruch fürchtet, den sein Aussprechen bei 
denen hervorrufen würde, die das Einschmuggeln seiner 
Konsequenzen im Qewande der Fiktion nicht bemerken 
wurden. Vollends wissenschaftlich wertlos Ist die Rktion in 
anderen Funktionen, wo sie nichts ist als die vornehme 
Verschleierung einer Lüge im Dienst falscher Methoden 
oder praktischer Interessen. Auf keinen Fall aber können 
die iuristischen Fiktionen verglichen werden jenen durchaus 



29 



legitimen, wenn auch manchmal gefährlichen, isolierenden 
Abstraktionen anderer Wissenschaften (luftleerer Raum, Allein- 
hemdiaft des wirtschaftlichen Sinns), die auch wohl manch- 
mal Pilctionen genannt werden. Denn Jene methodischen 
«Rktionen" sind nichts als Hilfsmittel einer Forschung 
die Ihre Eii^nisse eben insoweit als nur bedingt zutreffend 
erachtet, die materiellen Fiktionen der Jurisprudenz aber 
sind Hemmnisse der Erkenntnis, weil sie von der Theorie 
als dauernde Bestandteile gedacht werden, auf die man 
womöglich noch besonders stolz ist. 

Den gleichen logischen Wert wie Analogie und Fiktion 
hat auch das beliebte Operieren mit der ratio legis, ein Ver- 
fahren, das ebenfalls für eine positiv dogmatische, nur mit den 
allgemeinen iVtitteln der Logik arbeitende Methode ausge- 
geben wird. Es besteht darin, von den gegebenen Rechts- 
silien allgemeinere zu abstrahieren, welche deren Qiund 
bilden und deshalb ebenfalls positives Recht sein sollen, 
und aus diesen interpolierten Sitzen wieder absteigend nicht 
nur die schon vorhandenen, sondern auch alle erdenklichen 
anderen Sätze zu deduzieren (Thöl, Unger). Diese Inter- 
polationsmethode jedoch, welche, nebenbei gesagt, bei der 
Schaffung „allgemeiner Teile** stets verwendet wird, hat einen 
unheilbaren Defekt. Denn bekanntlich besteht wohl zwischen 
Prämisse und Konklusion, nicht aber zwischen Konklusion 
und Prämisse eine feste Beziehung Zu a = b sind nicht nur 
a«=sc, c=b die Prämissen, sondern auch a=nonc, noii 
Csb; und femer a=d, d = b; a^e, e=b usw., und über- 
haupt jedes beliebige Paar von Sätzen (wahren wie 
falschen), sofern sie nur die aus den Elementen der 
Logik bekannten, formalen Eigenschaften besitzen. Lo^scher- 
weise kann daher jeder beliebige Satz als Prämisse des 
Rechtssatzes, als «lex legum** der Scholastik, als «ratio legis" 
der Späteren fungieren, und demgemäß so Jeder beliebige 
Rechtssatz als Konklusion gewonnen werden. Auch hier 



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26 



muß also eine Macht eintreten, wekhe unter den beliebigen 
Pfimissen diejenigen ausliest» dienurgewfinsclite Konklusionen 
Hefem. Eine Macht, die nach dem Gesagten nicht das 
Denicen, sondern der Wille sein muß. Das MIßveiständnIs 
erklärt sich psychologisch daraus, daß die zu der verlangten 
Leistung ganz ungeeigneten PrSmissen gamicht erst aber die 
Schwelle des juristischen Bewußtseins treten. Sodann werden 
nicht etwa in d e r Weise das System und die allgemeinen Teile 
aufgestellt, wie es sich aus „den" Prämissen des Gesetzes 
ergeben würde, sondern umgekehrt werden diejenigen Sätze 
für Prämissen erklärt, welche das System in der geforderten 
Weise ausbauen lassen. 

Und so wenig wie die betrachteten taugen alle andern 
Interpretationskünste dazu, in streng logischer Weise die 
wenigen Gesetzesfragmente zum lückenlosen, auf alle Fälle 
des Lebens passenden Rechtssystem zusammenzufügen. Den- 
noch hat sich die Jurisprudenz stets mit Selbstvertrauen an 
ihre unmögliche Auf^be gewagt* bat immer wieder ver- 
sucht, mit ihren weni^n Schlüsseln alle Schlösser zu öffnen, 
und so nicht umhin gekonnt, bakl zum Dietrich zu greifen, 
bald die Schlösser zu zerbrechen: bald Konstruktionen zu 
errichten, die so gewaltsam waren, daß Ihre Unvereinbarkeit 
mit dem Qesetzestexte auch dem blödesten Auge offenbar 
wurde, bald umgekehrt, ans Gesetz sich klammernd, Ergeb- 
nisse zu erzielen, die im schreienden Widerspruch standen 
zu den „Bedürfnissen des Lebens* (d. h. meist nichts an- 
deres als dem freien Recht von Kaufleuten, f-rauen, 
Arbeitern). Die Voraussetzung aber bei jenen untauglichen 
Versuchen der Dogmatik war die idealistische Annahme, es 
gelte nur, in das große Mosaik der Rechtsbegriffe hie und 
da ein paar fehlende Steinchen einzusetzen. In Wahrheit 
liegt die Aufgabe gerade umgekehrt Denn die Elemente, 
von denen aus dfe unbestimmten Elemente ermittdt werden 
sollen, sind ja zum g|t)ßen Teil selbst wieder der Bestim- 



27 



mung bedürftig durch andere, von denen das Gleiche gjh, 
oder, noch schlimmer, durch eben dfe zunächst gesuchten, 
so dafi wir uns entweder hi ewig fehlerhaften Zirkebi drehen 
müssen oder ins Ufertose f6r|getrieben werden. Die wenigen 
festtiestimmien Elemente aber reichen entfernt nicht aus, um 
mit ihrer Hülfe, nach dem Gesetz des Widerspruchs, aus der 
Unzahl der möglichen Kombinationen die einzig zulässigen her- 
auszufinden. So wenig wie — trotz Cuvier — aus einem 
Knochen das ganze Tier konstruiert werden kann. Wirklich 
verzichtet denn auch die dogmatische Jurisprudenz kluger- 
weise auf ein wirkliches Anstellen auch nur eines kleinen 
Teiles der hierzu nötigen Operationen und verweist statt 
dessen kurzer Hand auf den berühmten »Gel st des Gesetzes". 
Aber wie wir gesehen haben, wäre es wohl leicht, sehr 
viele solcher Geister zu ermitteln, aber ganz ausgeschlossen, 
einen einzige solchen festzustellen. Und was da fOr Ihn 
ausgegeben wird, Ist denn auch treffend als «der Herren 
eigener Geist* ausgesprochen worden, ist nichts als der 
Geist, den man nach höchst persönlichem Geschmack Im 
Gesetze gerne walten sehen möchte. 

So entstehen denn jene großen, in Lehrbüchern nieder- 
gelegten Systeme individuellen Rechtes, die in dem Maße 
vollständig und widerspruchslos sein können, als esdie Individua- 
litäten ihrer Urheber sind, und in dem Maße einander wider- 
sprechen müssen, als die Individualitäten ihrer Urheber sich 
widersprechen. Sie sind schulbildend und die Praxis beein- 
flussend In dem Maße, als die Individualitat ihrer Urheber 
mit der anderer Juristen ubereinstimmt, und sie enthalten so- 
viele Stöcke staatlichen Rechtes, als mit ihrer individuellen 
Rechtsanschauung vereinbar ist, und mehr nur dann, wenn 
die Hoffnung besteht, daß die GesefaEgebung Ober kuiz oder 
lang in ihrem Sinne geindert werden kann. Nur wo das 
Gesetz noch jung ist, ist der Wille, es möglichst rdn dar- 
zustellen, :>tark und erfolgreich, der dogmatische Wert des 



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28 



Lehrbuchs dann freilich aber auch am geringsten, wie zahl- 
reiche Lehibucher des neuen bfirgerlichen Rechts beweisen, 
in dem Maße aber, als Theorie und Praxis neue ZweifelfiUe 

ans Licht fördert, die ja aus dem Gesetze allein so gut wie 
niemals entschieden werden können, entiernen sich die 
Lehrbücher vom Gesetz. In Dernburgs System würde 
Jusiinian sich schwerlich hineindenl^en l^önnen, und „schlank 
und leicht wie aus dem Nichts gesprungen" stehen in ihren 
allgemeinen Lehren die Straf rechtssysteme der groben Anti- 
poden Liszt und Binding vor unserm Blidc Allen diesen 
Lehrbuchern und Systemen aber ist gemeinsam, daß sie die 
Persöntichlseiten ihrer Schöpfer in all ihrem sittlichen, poli- 
tischen, rechtlichen Fühlen mit Schärfe zum Ausdruclc bringen, 
was nebst dem meisten vorheigesagten ^nz unmöglich wäre, 
wenn sie wiridich staatliches Recht darstellten, wie ihre Titel 
angeben. Um diesen Preis allein konnten sie ihre impo- 
nierende systematische Geschlossenheit erreichen. Die Jagd 
aber nach einem allgemein göltigen System von Sätzen, 
gleichviel ob staatlichen oder freien Rechtes, ist zumal in einem 
Zeitalter des steigenden Individualismus nichts als die Utopie 
einer dilettantischen Logik. 

Aber selbst eine auf Positj\ität und All^emeingGltigkeit 
resigniert verzichtende deduzierende Systematik kann vor dem 
Urteil der Logik nicht bestehen. Während es nämlich zuerst 
scheint, als ob gerade die Deduktionen der Rechtswissen- 
schaft, kraft der ihren Sätzen begrifflich zukommenden All- 
gemeinheit, ge^n den bekannten unter IMIlls Namen gehen- 
den Einwand der petitio prindpil Im Syltogismus gefeit seien, 
verhält es sich in Wahrheit gerade umgekehrt Denn während 
die Theorie der Naturwissenschaften, unter Ablehnung des 
mit dem JMut der Verzweiflung vorgeschlagenen Auswegs, 
im Syllogismus den Schluß vom Besonderen aufs Besondere 
zu erkennen, sich mit dem hypothetischen Charakter aller 
Erkenntnis beschieden hat, hierzu aber als notwendiges, un- 



29 



entbehrliches Korrelat die Verifikation der Hypothese durch 
Experiment oder unniittelbare Feststellung gefugt hat, wer* 
bietet Ja die normative Natur der Rechtssitze alles, was einer 
solchen Verlfilcation durch Erfahrung ähnlich s&he. Es wird 
daher die Naturwissenschaft stets, wenigstens seitdem die 
Naturphilosophie ausgespielt hat, aus der Falschheit einer 
korrekt deduzierten Tatsache auf die Falschheit der Theorie 
schh'eßen und diese entsprechend ändern. Der deduzierende 
Jurist dagegen, der Beiehrung durch die Empirie entbehrend, 
muß notwendig in das lächerliche Verhalten jener Ästhetiker 
gedrängt werden, die angesichts des leibhaftigen Kunstwerks 
lieber ihren Eindruck umlügen, als daß sie die ihm wider- 
sprechende Theorie ändern. 

Hängt so die juristische Deduktion auf der einen Seite 
in der Luft, so ist der andere Brückenpfeiler auf Sand ge- 
baut In der Naturwissenschaft nämlich ist freilich das Streben 
berechtigt, ihre SStze als Folgesätze aus immer höheren 
zu deduzieren, ihre Beigriffe als Teilinhalte aus immer um- 
fangreicheren zu entwickeln, fn der Jurisprudenz dagegen 
werden die Sätze um so wertloser und unbrauchbarer, je 
abstrakter sie sind — wenigstens von einem bald erreichten 
Grade ab. Denn um so unwahrscheinlicher und schließlich 
ausgeschlossen wird es, dai^ der Urheber des Rechtssatzes 
sich alle ihm untergeordneten Fälle vorgestellt hat und, falls 
vollgestellt, im Sinne jenes Satzes entschieden hätte. So 
wird denn hinter jenen allgemeinen Sätzen in einer — mit 
ihrer Allgemeinheit steigenden Zahl von Fällen — schlechter- 
dings nichts mehr stecken, kein Gesetzgeber, keine Macht, 
kein Wille, nicht einmal jener mystische »Wille des Ge- 
setzes*, und Oberhaupt keinerlei Realität, als der hohle 
Schall von Worten und die Schwäne bedruckten Papieis. 
Abstoßend daher das Individiuum, welches einem voreilig 
geschmiedeten sitdich-rechtlfchen Imperativ zu Uebe den 
Einzelfall neu und selbständig zu prüfen unterläßt, und be- 



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ao 

klagenswert der Richter, der „im Namen des Königs' als 
Reciit verlcündigen zu mfissen glaubt, was nictits als jene 
papierene Autoriüt befielilt 

Indem unsere Bewegung diese papierene Jurisprudenz 
verwirft, beicundet sie, daß sie selbst auf dem Boden ge- 
schichtlicher Auffassung steht, die der Dogmatismus 
unwissentlich verleugnet. Denn im Gegensatz zur früheren 
Rechtsphilosophie, welche glaubte, daß es ein Recht gäbe, 
welches „von Natur" gelte, lautet, wie schon erwähnt, der 
erste Hauptsatz der historischen Schule, daß alles Recht 
positiv sei, nur dann Recht sei, wenn und insoweit irgend 
eine Realität (Macht, Wille, Anerkennung) hinter dem 
Rechtssatz steht Also kann durch »Begriffsjuris- 
prudenz* niemals positives Recht gewonnen werden. 
Schon dieser eine Punkt zeig(, welcher Irrtum es ist, mit so 
vielen Nich^uristen zu Rauben, die Jurisprudenz sei die 
klassische Pflegstätte historischer Gesinnung. Keineswegs 
hat die historische Rechtsschute, und zwar am wenigsten ihr 
romanistischer Zweig, sich ihrer Aufgabe gewachsen gezeigt, 
und ihre Leistungen können auch entfernt nicht verglichen 
werden mit denen etwa der Kunstwissenschaft, der Philo- 
sophie und Nationalökonomie. Die r e c h t s p h i I o s o p h i s c h e 
Auffassung freilich von der geschichtlichen Xatur des Rechts 
steht für alle Zeiten fest. Aber nur diese Theorie der juri- 
stischen Theorie ist historisch veredelt worden, nicht sie selber. 
Schon ein äußeres Anzeichen ist die draußen wenig bekannte 
Tatsache, daft trotz der Menge von grundgelehrten Mono- 
graphien, deren Qediegenhdt in keiner andern Wissenschaft 
iibertroffen wird, nur ganz wenige Teilgebiete eine ausf&hr- 
liehe rechtsgeschichtliche Gesamtdarstellung besitzen, von 
Darstellungen der Recbtsgescbich^ überhaupt ganz zu 
schweigen. Wie wenig man femer einen zweiten Hauptsatz der 
historischen Schule ernstgenommen hat, daß nämlich ein 
Rechtssatz voll nur von dem verstanden werden kann, der 



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31 



seine g^nze Entwicklttng kennt» beweist satlsun die fast 
£(biziicl)e Vernachlässigung der gesamten Dogmengeschiclite 
zwischen Justinian und Savigny. Mancher Jurist aUer- 
dings, der Savignys 7 Binde der »Geschichte des Rö- 
mischen Rechts im Mittelalter" ehrforchlsvoll un aufge- 
schlagen gelassen hat, glaubt fest, daß hier jene rechts- 
geschichtliche Aufgabe ein für allemal erledigt sei, obwohl 
nichts dergleichen in ihnen steht. Und wieviel Minuten ihres 
Lebens haben gar Savignys Nachfolger, die berühmten 
Romanisten, auf das Studium der Glossatoren und der Rezep- 
tionsjuristen verwandt? ihre Werke würden völlig denen 
eines KunsthisfcorilceffS gleichen, der von der Hagia Sophia, 
mit ebiigen verlegenen Phrasen über die Kunst des Mittel- 
alters, der Renaissance und des Barocl^ sofört zu Canova 
uberspringe, wenn ein solcher Kunsthistorilcer fiberhaupt 
denkbar wire. Und erst die Theoretiker unseres Reichs- 
rechts, um von den Schriflsteliem aus der Praxis und ffir 
die Praxis gar nicht erst zu reden! Die historischen Ein- 
leitungen, die sie des Dekorums halber Ihren Schriften vor- 
ausschicken — um dann im Text kein einziges Mal auf sie 
zurückzugreifen — und die vermutlich erst angefertigt werden, 
nachdem alles übrige fertig gedacht ist, beweisen dem 
Kundigen, daß ihre Verfasser sich fast nie in originaler Weise 
mit geschichtlichem Stoff befaßt haben. Wenige nur haben, 
erfreulicherweise, den Mut, den ganzen historischen Apparat 
wegzulassen. Erfreulicherweise, denn noch niemand hat 
nachweisen können, daß ein erheblicher dogmatischer Fehler 
auf einer historischen Unkenntnis beruht Das Recht, das 
wir leben und als ein lebendes In uns föMen, brauchen wir 
nicht noch einmal hi der historischen Retorte uns vorzaubem 
zu Urnen, so wenig, wie wir Sandcrit zu kennen brauchen, um 
deutsch zu reden. Hier gilt es einmal mit der berOhmten 
Vergleichung von Recht und Sprache durch die historische 
Schule Ernst zu machen! Wohl wird gewissenhafte Detail- 



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32 



forschung (keineswegs etwa die eilige Qesuntfibersichten* 
durch welche gerade der junge Student ermfidet, verwhrt 
und verbittert wird) hier und da einen Strich zu dem Bild 
des heutigen Rechtes ffigen können. Aber zu weit wich- 
tigerem Zwecke hätte der geschichtliche Standpunkt von der 
Dogmatik verwertet werden müssen» nämlich dazu, ihr 
eigenes Grab zu schaufeln! „Das Recht hat sich organisch 
entwickelt als ein Naturprodukt* — gut, dann ist es auch 
irrationell, wie jedes Naturprodukt. So haben wir denn auch 
auf allen Gebieten vor der siegreich andringenden histo- 
rischen Auffassuug den Rationalismus zusammenbrechen 
sehen. Nur gerade die historische Rechtsschule hat ihn nicht 
nur nicht unterworfen, sondern ihn vielmehr zum Herren 
erhoben und ihm mit einem Eifer gedient wie niemand zu- 
vor. Die Begriffsjurisprudenz ist eine Schöpfung der hisUH 
rischen Rechtsschule. So hat sie wohl die Metaphysik des 
Naturrechts überwunden, vor seinen Methoden aber baM 
bedingungslos kapituliert Unsere Bewegung tritt hier die 
verlassene Erbschaft aus den besseren Anfängen der histo- 
rischen Schule an. 

Aber nur lebendes Recht kann der geschichtlichen Be- 
handlung entraten; niemals mehr kann uns die b'rkenntnis 
verloren gehen, daß die Vergangenheit nicht, wie es die 
Rationalisten taten, mit dem Maße der Gegenwart gemeistert 
werden darf, daß vielmehr jedes abgestorbene, unserem 
Fuhlen nicht mehr unmittelbar zugingiiche Rechtssystem nur 
aus den noch friiheren Phasen seiner Entwicklung heraus 
psychologisch und logisch zuganglich gemacht werden kann. 
Denn alle unbewußt gewordenen oder kompliziert gelagerten 
Elemente k6nnen nur durch Vergleich mit Phasen, in denen 
sie bewußten und klaren Ausdruck fanden, begriffen oder 
überhaupt erst entdeckt werden. Aber auch in dieser Rich- 
tung hat die historische Schule meistens gesündigt. Sie, die 
wir ihre dogmatischen Aufgaben so wenig in histo- 



33 



riscbem Gdste gestatten sahen, sie hat großes gdeistet in 
dem unseligen Unterfangen, ihre historischen Angaben 
dogmatisch zu veranstatten. Denn, mag man fiber Dog- 

matik an und für sich auch denken, wie man will, das 
wenigstens wird auch ihr Verehrer zustehen müssen, daß es, 
wie soeben Jelinek hervorhebt, schlechterdings keinen Sinn 
hat, ein nicht mehr geltendes Recht mit den Mitteln der 
juristischen Kunst zu bearbeiten i und das Gesagte gilt auch, 
wie Kadbruch gezeigt hat, von der Rechtsvergleichung. Aller 
jener unsägliche Aufwand an Geisteskraft verfolgt doch nur 
das Ziel, dem Richter die Notwendigkeit m ersparen, eine 
Qeseteesstelle als dunkel, einen Fall als unenlacheidbar nach 
geltendem Rechte bezeichnen zu müssen. Aber sobald ein 
Gesetz den Richter nichts mehr angeht, üllt Jene Notwendig- 
keit gewiß fort, und nichts in der Welt hindert mehr, dieses 
Gesetz gegebenenfeHs als Ifickenbaft, unverständlich, unsinnig 
zu bezeichnen und darzustellen. Nichts hindert mehr, und 
alles verlangt sogar, das zu tun, was der Wahrheit — dem 
einzigen Leitstern geschichtlichen Forschens — entspricht. 
Denn die Geschichte dient keinen praktischen Zwecken und 
schon gewiß nicht Zwecken, — die garnicht mehr irgend 
jemandes Zwecke sind. Für völlig wertlos daher, für so 
wertlos, wie die Werke der Alchymisten und Astrologen, 
müssen wir jene unübersehbare Literatur erklären, welche 
die antiquiertesten Institute des Zwölftafelrechtes, des Sachsen- 
spiegels, der Karplina nach dem Vorbild jener Art von Dog- 
matik bearbeitet, welche dem geltenden Rechte zuteil wird. 
Sie muß natürlich spurlos verschwinden, sobaM eine Be- 
wegung sich durchsetEt, die schon jenes Vorbild verwirft 

Mit dieser endgültigen, späten Einreihung der Jurispru- 
denz in das gemeinsame Glaubensbekenntnis aller Kultur- 
wissenschaften fällt auch die trennende Mauer, die man 
zwischen ihr und den übrigen hat aufrichten wollen. 
Es ist von den Vertretern des „Methodendualismus** 

Qnaeus Flavias, Der Kampf um die RechUwUsenschaft 3 



34 



2u viel Oewidit darauf gelegt worden, daß die Soziatwlsseii- 
schaften darstellen, was ist, die Rechtswissenschaften, was 
sein soll. Denn es darf nicht iibersehen werden, daß auch 
alles Sollende ein Seiendes ist Sollen ist Wollen, wenn 
auch ebie ägentümlich geßhrhte Art des Wollens, und zwar 
eigenes Wollen, wenn anerkanntes Sollen vorliegt, nur frem- 
des Wollen, wenn nicht anerkanntes vorliegt. Die Konflikte 
zwischen Wollen und Sollen sind Konflikte zwiespältigen 
Wollens. Ein Sollen, das nicht als Wollen einer Persönlich- 
keit gedacht wird, einer individuellen oder einer Oesamtper- 
sönlichkeit, der eigenen oder einer fremden, eine „objektive" 
Norm ist eine unvollziehbare, leere Vorstellung. Also hat 
auch die Jurisprudenz einen positiven Stoff des Seins zu 
bearbeiten, und zwar einen psychologischen, wie viele andere 
Wissenschaften auch. Ober den Kreis des Wollens kann sie 
nie hinaus, nur in ihm den Mafistab für die Beurteilung des 
Seienden finden, nur in ihm die Angabe des Zieles. Sein 
Icann immer nur an Sein gewertet werden. Das »dos mof pou 
sto" der objektivistischen Rechtsphilosophie bleibt ewig un- 
erhört. Ein prinzipieller wissenschaftstheoretischer Unter- 
schied läßt sich also von diesem Punkte aus für die Juris- 
prudenz nicht begründen; ein Zusammenwirken der Juris- 
prudenz mit Psychologie einerseits, Sozialwissenschaft an- 
dererseite wird daher als zwischen verwandten Wissenschaften 
von den meisten Vertretern der freirecbtlichen Bew^ung mit 
gutem Grund ersh'ebt 

Damit ist zqtf eich gesagt, daß sie aufzugeben hat den 
Anschluß an ihre bisherige Geistesverwandte, die Theologie. 
Die materielle Befreiung der Jurisprudenz von der Theologie 
ist freilich so gut wie vollzogen, nachdem das 17. Jahrhun- 
dert aus der Rechtsphilosophie das ius naturale dh^num, 
das 18. Jahrhundert aus dem Kirchenrecht die Bibel als 
Rechtsquelle, das 19. Jahrhundert aus dem Slrafrecht das 
Dogma von der Vergeltung vertrieben hat. Aber erst dem 



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35 

20. Jahrhumtert wird die scinmle Aufgulie zofalloi, den 
Geist der Theologie aus der verfOnglen Reciitswissenscbaft 
zu Verlagen. 

Der Puallell^as. der zwischen dogmatischer Juris- 
prudenz und orthodoxer Theologie aitetn von dieser sei 

hier die Rede — heute besteht, springt in die Augen. Dort 
Gott, hier „der Gesetzgeber", beides für die Erfahrung un- 
zugängliche Wesen. Ihre Intentionen sind der profanen 
Masse verborgen oder nur undeutlich bekannt; eine 
priveligierte Kaste von Theologen — Juristen vermittelt ihre 
Ottenbarungen. Beide geben vor, den Willen jener Wesen 
daizostetlen, wfthrend in Wahrheit für deren Willen ange- 
geben wird, wovon man wünscht, dafi es als Religion — 
Recht anerkannt werde. Notwendigerweise: denn zur Kon- 
stmlction dieses Wfflens sind nur Fragmente gegd>en, heilige 
Schriften ^ Gesetze. Dennoch besteht die Aufgabe, aus ihnen 
alle Prägen Idar und deutlich zu beantworten. Der Jurist 
mufi jede Hsndhmg als Recht oder Unrecht der Theologe 
jede als Gott wohlgefällig oder verhaßt nachweisen können. 
Ein künstliches, unehrliches System von Cyklen undEpicyklen 
muß daher aufgeführt werden. Wie der Jurist es macht, 
haben wir gesehen, wie der Theologe, lehrt ein Blick auf die 
Erklärungen der zehn Gebote im Katechismus. Und wie der 
Jurist jede seiner Entscheidungen als im Gesetze begründet 
darstellt, so glaubt die Kirche jede ihrer Einrichtungen, selbst 
die geringfügigsten der Liturgie, auf eine Stelle der heiligen 
Schrift zurficicführen zu müssen. Die InterpretationsIcünste, 
die wir den Juristen zu diesem Zwecice haben aulbieten sehen, 
reichen zwar bei weitem nicht heran an die Verdrehungen, 
die sich die Theoloitie eriaubt hat, und die von jeher die 
Empörung aller Wabrheitsfreunde und auch die der Theologen 
— von da* andern Konfession erregt haben. Weiter: wie 
Gesetz und Schrift lückenhaft sind, so sind sie auch wider- 
spruchsvoll in steh selbst und voll Widerspruch mit der Wirk- 



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96 



Itehkdt, auf die sie sich begehen. Und dennoch sollen beide 
als wideispnichslose Systeme daiigestdit werden, In denen 
sich nichts verrät von tausendjährigen Entwicklungen, von 
tausend Kreuzungen verschiedener Kultursysteme, die In ihnen 
niedergelegt sbid. Moses und Thomas von Aquino, Augustus 
und Bismarck werden in eins verschmolzen. Der Jurist findet 
in zeitiicfi und sachlich weitest entfernten Gesetzen einen 
nGeist des Gesetzes"; der Theologe sucht im Schweiße seines 
Angesichts altes und neues Testament nach ^Konkordanzen" ab, 
die nur die Heiterkeit des Historikers erregen können. Hierzu 
bedarf es geeigneter Instrumente. Der Jurist bedient sich der. 
„regulae juris«, der Theologe der in sich selbst Widerspruchs* 
vollen Begriffe, wie Drei-Einigkeit, Gott -Mensch, Jungfrau- 
Mutter, von denen bakl die eine, bakl die andere Seite nach 
Belieben verwandt werden kann. So führt der Theologe 
mit größter Geläufigkeit das Glfick der Guten auf die Gnade 
Gottes, das Unglflck der Guten auf eine PrOfung Gottes, das 
Unglück der Schlechten auf die Gerechtigkeit Gottes, das 
Glück der Schiechten auf den unerforschlichen Ratschiuli 
Gottes zurück. Ebenso führt der Jurist eine ihm erwünschte 
rigorose Anwendung des Gesetzes auf seine Heiligkeit, eine 
laxe auf Billigkeit zurück; sagt, wenn er unterschiedslos 
anwenden will, lege non distinguente nec nobis est distinguere, 
und im umgekehrten Fall: qui bene distinguit, bene docet, 
oder: cessante ratione legis, cessat lex ipsa. Wie es sein 
»Wille zum Recht*" verlangt, wird bald die restriktive, bald 
die exten^ve Interpretation angewendet, ohne daß — hier 
wiederholen wir Wurzeis fundamentalen Angriff — auch nur 
der Versuch gemacht wird, die Kriterien anzugeben, unter 
denen dieses oder jenes der zahlreichen Interpretationsver- 
fahren geboten ist. Überhaupt ist das Verhältnis des Willens zu 
Verstand und Gefühl in beiden Wissenschaften das gleiche. Der 
interpretierende Verstand gelangt unzahlige Male zu einem Er- 



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gebnis. das dem religldsen oder rechUidieii GefQhl zuniclist 
schroff widerspricht Der Wille aber fördert die Obendn- 
sdininutig beider. So wird denn entweder der Verstand dem 
QefShl angepaßt — besonders in der Jurisprudenz — oder 
das Qefahl dem Verstände, — was hflnfiger in der Theologie 
vorkommt Der Theologe beweist mit größter Virtuosität, 
aber auch wahrer Überzeugung die Glaubenssätze derjenigen 
Religionsgemeinschaft, der er, in der größten Zahl der Fälle, 
nur durch den nackten Zufall der Geburt angehört, womit 
wir jenes alte und nie veraltende Argument aussprechen, 
das alle Apologetik der Geringschätzung überliefert. (Selten 
kann man eine jener Rechtfertigungisschriften lesen, ohne 
von der Obeneugang durchdrungen zu werden, daß der 
^iche Autor statt der Dideinigiceit auch die Vierein^eit 
bewiesen haben würde, falls ein altes Konzil diese zum Dogma 
erhoben hätte.) Stemmt dem sich aber, ausnahmsweise, 
ein besonders indhrlduell und machtvoll ausgebildetes Qefuhl 
unbeugsam entgegen, so muß der Verstand weichen; der 
„Reformator" beweist mit wütender Logik die neue An- 
schauung aus dem alten Texte. Das ist, wie wir sahen, in 
der Jurisprudenz der Regeiiall, aber auch hier fehlt keines- 
wegs das Gegenbild: Der Jurist, wenn er seine hauptsäch- 
lichsten Institute rechtfertigt, findet gerade die Regelung ge- 
rechtfertigt, welche die jeweilige Rechtsordnung vorschreibt, 
und wird morgen die entgegengesetzte rechtfertigen, wenn 
ein fremdes Gesetzbuch ihm oictroyiert wird. In allen diesen 
Fällen ist der wahre Acteur eben der Wille; leerer Schein 
die logische Deduktion. Sie steht im Dienste nicht der 
Wahrheit, sondern des Interesses. 

Wir brauchen diese Parallele nicht weiter auszuführen. 
Das Gesagte genügt, um das Wesen der orthodoxen Theologie 
bn Wesen der Juristischen Dogmatik wiederzufinden, womit 
diese gerichtet ist. Aber nachdem die Jurisprudenz von 
ihrer Lehrmeisterin Theologie so viel Schlechtes gelernt hat, 



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hat sie jetzt Gelegenheit» wiederum von dieser auf den 
rechten Weg geleitet za werden. Denn nachdem die Schieler- 
machersche Reform» ähnlich wie die ihr geistesverwandte 
Savjgpysche, nicht vermocht hat. ihre Wissenschaft aus den 
Banden des Rationaiismus dauernd zu helreien, erleben wir 
fetzt, wie jeder weiß^ einen neuen Umschwung. Wir meinen 
jene Richtung der Theologie, deren letzte Kundgebung F*flei- 
derers „Entstehung des Christentums" ist Sie erkennt im 
Inhalte der christlichen Dogmen „Mythen", Fabeleien ohne 
historischen Wert, und braucht deshalb nicht jene theolo- 
gische Technik, die zur Verteidigung dieser falschen Voraus- 
setzungen erfunden werden mußte. Sie unternimmt es, ihren 
Gegenstand «nach denselben Grundsätzen und Methoden 
zu erforschen, wie andere Wissenschaften; sie schreitet rück- 
sichtslos vorüber an den altehrwärdigsten Mplictioaen" d^P 
Theologie; sie wendet sich mit Abscheu von den .zweifel- 
haften Interpretationsfcfinsien", mit denen man bisher die 
klaffenden Widersprüche hinwegzutrügen versucht hat» die 
sie vielmehr unumwunden zugfbt. 

Keiner Darlegung bedarf die Wesensidentitfit dieser 
freireligiösen mit unserer freirechthchen Bewegung. Und 
doch, ein Unterschied besteht zwischen beiden: während 
dort der Geist der Reformation sich schön vollendet, bleibt 
für die Jurisprudenz, die ihre Reformation verschlafen hat, 
noch das meiste zu leisten übrig. Wohl spricht deutlich 
aus den Idealen unserer Bewegung der Geist der deutschen 
Reformation, die den Buchstaben überwand, das Individuum 
bereite, dem Gefühl sein Recht zu geben begann und auf 
die Innere Stimme des Gewissens lauschen lehrte; aber ver- 
gebens harrte bisher die Jurisprudenz des Mannes, der die 
Kraft in sich lühHe, Ihr Luther zu werden. 

Dies die Rechtswissenschaft, welche wir erstreben. 
Aber scheint es nicht, daß gegen dieses Streben sich furcht- 
bar emporbäumeu alle Postuiate der Rechtsprechung, 



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39 



iene Ideale, in denen wir gewolint sind, die tiettig^ten Er- 
rungenschaften unseres politischen und kultSrlichen Daseins 
zu erblicken? Wenn die Rechtswissenschaft freies Recht an- 
erkennt kann die Rechtsprechung sich niclit mehr aus- 
schließlich auf staatliches Recht gründen! Wenn jene schöp- 
ferisch ist, kann diese nicht länger bloß Dienerin des Ge- 
setzes sein! Wenn die Wissenschaft dauernd mit Löcken zu 
rechnen hat, kann die Praxis nicht jeden Rechtsfall rechtlich 
entscheiden! Wenn die Theorie gefühlsmäßigen Werten Raum 
geben darf, können nicht mehr unbedingt begründete Urteile 
verlangt werden 1 Wenn der individuelle Faktor von der 
Theorie anerkannt wird, veriiert die Praxis den Charakter 
der Voraussehbarkeit, der Gleichmäßigkeit I Wenn die Theorie 
selber antidogmatisch wird, kann die Rechtsprechung nicht 
Iftng^r wissenschafdich sein! Wenn der Wille in dieser 
herrscht, kann jene nicht Ünger affekttos bleiben! Kurz, 
die Ideale der Gesetzlichkeit der Passivität, der Begründet- 
heit, der Wissenschaftlichkeit, der Rechtssicherheit, der Ob- 
jektivität scheinen mit der neuen Bewegung unvereinbar. Aber 
glücklicherweise läßt sich zeigen, daß jene Postulate teils 
schon bisher nicht verwirklicht worden sind, teils nicht ver- 
dienen, verwirklicht zu werden. 

„Begründung aller Urteile auf Gesetz!" Aber schon 
heute unterwerfen wir uns in immer steigendem Maße freu- 
dig Schiedsgerichten, in denen ausdrucklich staatliches Recht 
ausgeschlossen sdn soll. Und die staatlichen Gerichte selbst 
beziehen sich immer mehr auf Treu und Glauben, auf gute 
Sitten, auf die Anschauung des Verkehrs, auf billiges Er- 
messen und andere Gesetzessurrogate. Freilich: «dem 
ausdrucklichen, staatlichen Befehle folgend", sagL der be- 
liebte Einwand, — der demnach staatUcfaen Virilen noch in 
seiner Selbstyerneinung zu erkennen vermag. Oder würde 
man vielleicht auch dann noch sagen, daü der Richier nur 
nach Gesetz urteile, wenn unser Gesetz nur den einen Para- 



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40 



graphen hätte: der Richter entscheide nach MUfgem Er- 
messen?! 

»Der Richter soll der Diener des Qesetzes sein*l 
Und doch Mern wir die Praxis der Rezeption, die dem Gber- 
legenem Recht mm Sieg Ober altheilige Satzung verholten 

hat, und die Praxis der französischen Gerichte, die in hundert- 
jähriger Arbeit den Code civil bei frischem Leben erhält, 
und erwarten ebenso von den deutschen Gerichten der 
Zukunft, daß sie es verstehen werden, das Bürgerliche Ge- 
setzbuch stets neuen Bedürfnissen anzupassen. 

»Jeder erdenkliche Fall soll, und zwar aus dem 
Gesetze allein, entschieden werden", denkt derCode 
civil in jenem berühmten Artikel 4. Aber auf der andern 
Seite haben wir ein Gesetzgebung^rk, den Vorentwurf 
zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch von 1900, den 
Kenner das bedeutendste Erzeugnis modemer Jurisprudenz 
genannt haben, und welches in Art 1 bestimmt, daß, wenn 
alle anderen Quellen versagen, der Richter ,nach der Regel 
entscheiden soll, die er selbst als Gesetzgeber aufstellen 
würde. In jenen beiden Paragraphen hegt alles angedeutet 
was wir fliehen, alles, was wir erstreben müssen. Wie weit 
die „Emanzipation des Richters vom Gesetz" zu treiben ist, 
ist allerdings eine weder genau noch allgemein zu lösende 
Frage, wie quantitative Fragen in qualitativen Wissenschaften 
stets. So sehen wir denn auch die Meinungen hierüber unter 
den einzelnen Vertretern der Rkditung weit auseinander gehen, 
je nachdem sie^ ihren verschiedenen Naturen entsprechend, 
den Wert der Indhridiialität und des Besonderen im VerhSItnis 
zum Wert des Staats und des Allgemeinen mehr oder wenige 
hoch einschStzen. Uns, die wir auf dem Standpunkt stehen, 
daß auch fremdes Fühlen Achtung verdient, fällt es nicht ein, 
eine bestimmte Lösung (d.h. die unserm Fühlen entsprechen- 
de) als die richtige zu preisen und als für alle anderen ver- 
pflichtend auszugeben: wir teilen die unsere nur mit in der 



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41 



Hofftiung, daß auch andere in Ihr die eigne Ldsung finden 
werden. Wir g^hen also davon aus, daO die Reclitspflege 
in der Hauptsache Staalstäiigkeit ist und bleiben nmB. Wir 
fofdem deshalb« daß der Richter, durch seinen Eid ver- 
pflichtet, den Fall so entscheidet, wie nach klarem Wortlaut 
des Gesetzes zu entscheiden ist. Von diesem darf und soH 
er absehen erstens, sobald das Gesetz ihm eine zweifellose 
Entscheidung nicht zu bieten scheint; zweitens, wenn es, 
seiner freien und gewissenhaften Überzeugung nach, nicht 
wahrscheinlich ist, dal^ die zur Zeit der Entscheidung bestehen- 
de Staatsgewalt die Entscheidung so getroffen haben würde, 
wie es das Oesetac verlangt. In beiden Fallen soll er die 
Entsdieidung treffen, die, seiner Oberzeugung nach, die gegen- 
wärtige Staatsgewalt, fails der einzelne Fall ihr voiigesciiwebt 
iiitle, gefaroffen haben wfirde. Vermag er sich eine solche 
Oberzeugung nicht heizustdlen, so soll er nach freiem Recht 
entscheiden. Endlich, in verzweifelt verwickelten oder nur 
quantitativ fraglichen Fillen* wie Schadenersatz für immateri- 
ellen Schaden, soll — und muß er — nach Willkur ent- 
scheiden. Stets aber soll den Parteien im Zivilprozeß frei- 
stehen, durch gemeinsamen Antrag den Richter von der 
Pflicht der Beobachtung irgendwelcher staatlichen Rechtsnorm 
zu entbinden. 

Man wende nicht ein, daß jene richterliche Überzeugung 
unkontrollierbar ist und unsere Vorschläge somit dem richter- 
lichen Belieben freie Hand lassen. Denn wenn wir uns nicht 
mehr auf den Eid des i^chters, der eben ernste Ober- 
zeugung fordert, verlassen können, hört alles auf. Auch heute 
stellen wir es ja der freien, unkontrollierbaren Oberzeugung 
des Richters anheim, was er, interpretierend, für geltendes 
Recht und was er, untersuchend, fin- Wahrheit erklirt. 
Gegen Exzesse des Subjektivität schützt genügend die aus- 
gleichende Vielheit der Köpfe im Richterkollegium und der 
Instanzenzug. 



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42 



Wir glauben, daß wir dem Richter damit nicht mehr 
^ben, als was er bisher sich schon selbst — noCwendi^r- 
weise — genommen hat, und sehr viel weniger, als was 
wir Deutschen in frfiheren Zeiten und die Engländer noch 
heute — um vom römischen Pritor zu schweigen — ver- 
stattet haben. Denn wir sahen ja, daB alle juristische 
Technik vom Willen beherrscht wird und jedes auf ihr l>e- 
ruhende Urteil demnach Gesetzgebung, »lex specialis** ist. 

Wozu also der ganze Lärm? Weil es besser ist, zu 
der richtigen Praxis auch die richtige, sie begründende Theorie 
zu besitzen, statt einer ihr ganz widersprechenden und ver- 
kehrten; und weil es besser ist, dem richtigen Ziel sich auf 
der graden Straße zu nähern, als auf krummen, schwierigen, 
gefährlichen und unehrlichen Schleichweg; endlich, weil 
nur das stolze Bewußtsein um das eigne, verantwortliche 
Tun uns große Richterpersönlichkeiten verschaffen kann, wie 
sie die Engländer In ihren Judges besitzen, die an Volks- 
tümlichkeit keinem im Inselreich nachstehen. 

Jedes Urteil muß motfviertwerdenl* Wirverkennen 
keineswegs den großen Wert dieses Postulats. Aber wir haben 
lange Epochen der Rechtsprechung gehabt, die es nicht kannten, 
dieses Postulat, das immer ein Zeichen von mangelndem Ver- 
trauen auf der einen, von mangelnder Autorität auf der andern 
Seite ist. Der Gläubige verlangt nicht vom jüngsten Gericht 
motivierte Entscheidungen ! Und wir vertrauen unsere höchsten 
Güter gerade jener Klasse von Gerichten an, die ihr Verdikt 
nicht zu begründen brauchen, den Schv\'iirgerichten. Und 
wie steht es denn mit unsem heutigen Begri^dungen? Bei 
ins darum in thesi verlangt sie keiner, bei zweifelhaftem 
Recht sind sie objektiv — wie wir gesehen haben — nicht 
begründet, sondern nur erschlichen, und subjektiv, psycho- 
logisch, sind sie es allenfalls für die obsiegende Partei, ät 
aber auch ohne jede Begründung zufrieden wäre, die unler^ 
liegende aber hört aus allem n,ur das — nein. Und was 



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43 



ilie Qberstimmten Richter, iHe bei der OiSjanisaHon des In- 
stanzenziigs übrigens die JMijoritit bilden Icdnnen, von der 
Begründedidt des Urteils denleen, braucht nicht gesagt zu 
werden. 

»Das Urteil muß voraussehbar selnl** Ein schönes 

ideal gewiß, — aber in Ewigkeit unerfüllbar. Wenn das 
Urteil voraussehbar wäre, gäbe es ja keine Prozesse und 
also keine Urteile, denn wer würde einen Prozeß anstrengen, 
in dem er, wie sfch voraussehen läßt, — unterliegt? Oder 
wil) man behaupten, daß die Anwälte der unterliegenden 
Parteien Ignoranten oder Betrüger waren? (Es wäre eine 
Justizstatistik von unvergleichlichem Werte, wenn einige der 
hervorragendsten Anwälte berechnen wurden, in wieviel Pro- 
zent der Fälle das Urteil Ihren Erwartungen völlig wider- 
sprach.) 

•Das Urteil soll objektiv, darf nicht persönlich 
seini'' Aber der Mensch kann nicht umhin, allem, was er 
tut, den Stempd seiner Persönlichkeit aufeudrucken — und 

von welch maßgebendem Einfluß auch heute die Persönlich- 
keit des Richters aui den Ausfall des Spruches ist, weiß jeder, 
der im Haus der Themis kein ganz naiver Fremdling Ist, 
und jeder, der beobachtet, wie der Wechsel in den Ent- 
scheidungen eines Gerichtes gleichen Schritt hält mit dem 
Wechsel der Persönlichkeit seines Leiters. 

„Das Urteil soll eine streng wissenschaftliche 
Leistung selnl" Aber wie reimt sich damit zusammen der 
nicht zu leugnende Gegensatz zwischen Theoretikern und 
Praktikern, die Tatsache, daß wir nichts höher schätzen als 
den iuristischen Takt, daß wir die Kunst der Recht- 
sprechung preisen, und daß wir sie zum großen und wichtigen 
Teil Laien anvertrauen? 

„Die Rechtsprechung soll affektlos seinl" Das 
soll und wird sie auch in Zukunft bleiben, denn der Wille 
wird blind nur dann, wenn er auf Hindernisse stößt, 



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44 



was bei der AUmacht und UniMrtdlkhkeit des heutigien Rieh- 
teis nicht der Fall Ist Und wo Aiffekte bleiben und vielleicht 
sich steifem werden, sind sie. abgesehen davon, daß sie bei 
jeder Qestaltung dieser Dinge unvermeidlich sind, nicht zu 
fQrditen. denn die Menschennatur ist glücldicherweise so be- 
schaffen — wie auch der größte Pessimist wird zugeben 
müssen — , daß der an emem Streite gänzlich unbeteiligte 
Dritte sich nie bewußt für die schlechte Sache entscheidet. 

Freilich kann gegen einen Teil des hier Ausgeführten 
gesagt werden, daß Ideale ganz und gar nicht dadurch wider- 
legt werden, daß man die Wirklichkeit als ihnen wider- 
sprechend nachweist. Aber die betreffenden Argumente 
brauchen auch nichts weiter zu sein, als A!]gumente ad 
hominem, gerichtet g^en diejenigen Q^er, die unsere 
Bewegung im Namen jener Ideale bekämpfen, von denen 
doch auch der heutige Zustand, den sie erhalten wollen, 
so hoffnung$l05 weit entfernt ist Lenken wir nun den 
Blick von jenen teils nicht zu erstrebenden, teils nicht 
zu erreichenden, teils garnicht gefährdeten Idealen fort 
zu anderen, höheren ihnen widersprechenden Idealen, 
welche bisher schon verwirklicht wurden und noch besser 
sich verwirklichen werden, wenn die freirechtliche Be- 
w^ung dereinst sich durchgesetzt haben wird. 

Da ist zunächst das Ideal der Volkstümlichkeit, ein Ideal, 
das in langen Epochen römischer und deutscher Vergangen- 
heit verwirklicht war, in England noch venvirklicht ist, von 
dem wir aber heute unendlich weit entfernt sind. Die Gründe 
dieses Zustandes sind häufig klar gestellt worden, sie liegen 
ausschließlich in dem Charakter der Rechtswissenschaft und 
der Rechtsprechung, den wir bekämpfen. Auch die Schäden 
des unleidlichen Zustandes sind bekannt genug, sie müssen 
mit diesem selbst verschwinden, sobald wir eine Recht* 
sprechung erhalten, die im Volke lebendes, freies Recht zum 



45 



Ausdruck bringt und weit von >ich weist die alten, dem 
Laien unverstindHchen und verhaßten Qeheimmethoden. 

Aber zu diesem Ziele braucht nicht fort^schritten zu weiden 
auf jenem beschSmenden Wege, der in einem Zeitalter stets 
steigender Fachüchlceit die Rechtsprechung in die Hände 
der Laien, d. h. der {Dilettanten, legt Die Stunde der Schwur- 
gerichte freilich hat geschlagen, sie sinken dahin — wie 
andere Illusionen des tollen Jahres auch (obwohl man viel- 
leicht den alten Namen auf neue Einrichtungen übertragen 
wird). Doch auch die Schöffen, die Handels- und anderen 
gemischten Gerichte würden mit allen ihren Beden l^lichkeiten 
überflüssig werden, sobald die selbstverständliche Forderung 
verwirklicht wird, daß der Richter — wie jeder andere 
Arbeiter — alles was er tut, als Fachmann tut Wir brauchen 
Richter, die sowohl mit den im Volke herrschenden Rechts- 
anschauungen, als mit den Talsachen des Lebens und den 
Ergebnissen benachbarter Wissenschaften vertraut sind. Die 
mit gründlichster nationalökonomischer und kaufmännischer 
Bildung ausgerüstet keinem Etankprozefi mehr hilfk» gegen- 
überstehen. Die allen Schlichen des modernen gewerbs- 
mäßigen Verbrechers so gewappnet entgegentreten, wie sie 
mit der Eigenart künstlerischer Berufsverhältnisse vertraut sind. 
Selbstverständlich mulä dann auch im Richterberufe dieselbe 
Spezialisierung platzgreifen, wie in allen andern, wobei es 
eine noch offene Frage ist, ob diese schon auf der Universi- 
tät oder erst nach beendigtem Studium zu beginnen hat. 
Auch hier stoßen wir auf manche uns günstigen Zeichen 
derzeit: die Zusammenl^ng juristischer und staatswissen- 
schafüicher Fakuhäten, die steigende Betonung des national- 
ökonomischen Unterrichts für Juristen, die Entstehung 
juristisch-psychologischer Übungen und Vereine, die Unter- 
suchungen über Pisychoiogie der Aussage (ein Problem von 
unermeßlicher Tragweite), die stark wachsende philosophische 
Schulung, die soziologisclien und realistischen Forschungen 



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46 



der KrimbiaKstai. Spezialisten des Tatbestandes, nicht 
Tausendicünstier des Rechtssatzes — moB die Losong 
sein. Anstatt daB wie hettte Theorie and Praxis die beiden 
Männer aus der Parabel darstellen, von denen der eine den 

Bock melkt und der andere das Sieb darunter hält, wollen 
wir in Zukunft eine Literatur haben, die — neben dem Be- 
trieb der Gesetzeskunde — die Lebenszustande, die konkreten 
Rechtsverhältnisse und neben dem, was sein soll, auch das, 
was ist. darstellt (Ehrlich). Und Richter wollen wir, die, auf sie 
und die eigne Erfahrung gestutzt, in voller Kenntnis der 
sozialen Funktionen jedes RecMssalzes und der socialen 
WiricuniSen ihrer Entschddung, zu arteflen wissen. Alles 
verstehen, heißt alles brecht bewerten. 

Nur dann wird auch das Ideal der Unparteilichkeit 
verwirklicht werden, jener heiligen richterlichen E^enschafl, 
an welche heute so weite IMse des VoHces nidit mehr 
glauben — nicht mehr glauben können. Denn die Partei- 
lichkeit, welche - es darf nicht geleugnet werden — aus so 
vielen besonders strafrechtlichen Urteilen spricht, stammt 
nicht aus bösem Willen, sondern aus nackter Unkenntnis 
der sozialen Tatsachen und Anschauungen und aus jener 
Befangenheit in naiven Klassenvorurteilen, welche eben 
in jener Unkenntnis ihre Wurzel und Entschuldigung 
finden. Unparteilichkeit setzt freilich noch mehr voraus — 
nämlich Unabhängigkeit, — von welcher auch in vollem 
Malte nicht die Rede sein kann, solange das bürgerliche 
Fortkommen des richtenden Indhriduums von dem polltischen 
Machthaber abhängt. Auch hier wird die Lockerung der 
Beziehungen von staatlichem Willen und Richterspruch in 
noch nicht zu übersehender Weise, vielleicht durch Volks- 
wahl der Richter etwa nach schweizerischem Vorbild, Wan- 
del schaffen. 

So strebt denn die Bewegung mit allen ihren Kräften 
einem Ziele zu, das alle die genannten in sich schliefet, — 



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47 



dem höchsten Ziele alles lechtUchen Geschehens — Gerech- 
tigkeit Nur wo geapreiigt der enge Kanon weniger 
Paragraphen, die Pulle freien Rechtes die Möglichkeit ge- 
wihrt, jedem Pall die angemessene Regelung zu geben, nur 
wo Freiheit Ist, — Ist Qerechtigkät Nur wo statt un- 
fruchtbaren Ti^lns ein schöpferisciier Wille neue Gedanken 
zeugt, nur wo Persönlichkeit ist, — ist Gerechtigkeit. 
Nur wo ein aus dem Buch ins Leben fortgewandter Blick 
des Handelns fernste Folgen und Bedingungen ermißt, nur 
wo Weisheit ist. — ist Gerechtigkeit 



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4» 



Schlufl. 

Dies unsere Bewegung, dies unsere Ideale, die wir dem 
heutigen Zustand mit Zuversicht und Entschiedenheit ent- 
gegenstellen. 

Und doch sind wir die letzten, die in vielhundertjähriger 
Obung nichts als Mißbrauch erkennen wollen. Vielmehr 
läßt ein Blick auf die beiden größten Staatsvölker, auf 
Römer und Briten, die relative Berechtigung der jenen un- 
bekannten juristischen Dogmatik und ihrer B^leiterschd- 
nun^n erkennen. Denn sie ist das, wenn auch plumpe, 
Mittel, bei den Überlegungen der Rechtsprechung der unbe- 
sonnenen Neuerung$lust einen Hemmschuh anzulegen. Nur 
wo die politische Kultur des Richterslandes hoch genug war, 
um bei jenen Überlegungen das konservative Moment nie 
zu kurz kommen zu lassen, bedurfte es jenes Werkzeuges 
nicht. Auch unser Richterstand aber ist jetzt wohl reif ge- 
nug, um des alten Gängelbandes zu entraten, reifer hei 
weitem jedenfalls als die Mehrzahl der als Gesetzgeber 
funktionierenden Parteiagenten 1 

Von der Kultur des Richters hängt im letzten Grunde 
alier Fortschritt der Rechtsentwicklung ab. Und hieran 
wollen wir, diese Streitschrift beschließend, einen historischen 
Veitf eich anknüpfen. Wir glauben nicht mehr, wie einst die 
rationalistische Geschichtsauffassung, daß (fie frühere Herr- 
schaft der formellen Beweistheorie schlechthin Verirrung 
war. Wir wissen vielmehr, daß man so lange die Beantwor- 
tung der Schuldfrage an äußerliche Voraussetzungen, wie Qe- 



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4» 



sündnis und Zwef-Zeog^bewds, iaili|ifen mußte, als die Kultur 
des Richters ihm nicht gestattete, den logischen, psycholo- 
gischen, soadologitehen Tatbesland selbständig zu erfassen. 
Als dann aber jener hrtdlektnelle Rausch über die Mensdiheit 
kam, der mit der Geburt der mathematischen, exakten hbtur- 
Wissenschaften im 17. Jahrhundert anfing und im 18. durch 
die Auiklärung seine weltgeschichtliche Gestalt empfing, 
schlug auch fijr die Rechtsprechung die Stunde, da sie eine 
freilorschende, voraussetzungslose, wissenschaftliche Tätig- 
keit entfalten konnte. Nicht mehr mit Stricken und Zangen 
und Feuerbränden brauchte der Richter den Angeklagten zu 
Leibe su gehen, um das Geständnis eines Tatbestandes 
ihnen zu erpressen, den sein möndiggesprochener Verstand 
selbständig feststellen konnte. So wird die Zeit auch kom- 
men, in der der Jurist nicht mehr dem Gesetze mit Fik- 
tionen und Interpretationen und Konstrukttonen zu Ldbe zu 
gehen braucht, um ihm eine Regelung zu erpressen, die 
sein zu individuellem Leben erwachter Wille selbslindig 
wird finden dürfen. 

Denn nachdem das t9. Jahrhundert vorüber ist, dieses 
Zeitalter der Halbheit und des Kompromisses, gehen wir 
einem 20. entgegen, das, wenn nicht alle Zeichen trügen, in 
Kunst und Wissenschaft und Religion ein Jahrhundert des Ge- 
fühls und des Willens sein wird. Aus den Trümmern der 
Foiier erhob sich, zum Entsetzen aller Mutlosen, triumphie- 
rend die Freie ßeweiswürdigung, der Stolz der Gegen- 
wart; aus den Trümmern der Dogmatik wird, zum Ent- 
setzen aller Unklaren, der Stolz der Zukunft steigen, die 

Freie Rechtsschdpfung. 



Onaeus-Flavius, Oer Kainpf um die RediiswlMcMChaft. 4 



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Anhang. 



Ehrlich, Freie Rechtsfindung ttnd freit Rechtswisseiucbaft. 1903 (und 
in lirQheren Schriften). 

Sodologfe und Jurisprudenz, Zukunft 14 (1906) 231. 
Q^ny, M^hode d*Interpf<tation, 1899. 

Heck, Interessenjurisprudens und Qesetzestieue, Deutsche Juristen- 
zeitung 10 (1905) 1140. 

Jung, Die logische Geschlossenheit des Rechts, 1900. 
Lambcr!, La fonction du droit civil compare, 1903. 
Mayer, AV E, Rechtsnormen und Kulturnormen, 19i)3. 

Müller-Crzbach, Die Grundsätze der mittelbaren Stellvertretung 
aus der Interesseniage entwickelt, 1905. 

Radbruch, Über die Methode der Rechtsvergleichung, Monatschrift 
für Kriminbialpsychologie 2 (1905) 422. 

Rumpf, Zum jetzigen Stande der Lehre von der adäquaten Verur- 
sachung (Anhang), Jlierings Jahrfmcher 49 (1905) 394. 

Schlossmann, Der frrhim über wesentliche Eigenschaften. Zu- 
gleich ein Beitrag zur Theorie der Qesetzesauslegung, 1903 (und 

in früheren Schriften). 

Schmidt, Bruno, Das Gewohnheitsrecht, 1899. 
Stammler, Die Lehre \on dem richtigen Rechte, 1902- 

Stampe, Rechtsfindung durch Konstruktion, Deutsche Juristen-Zei- 
tung 10 (1905) 417. 

— Rechtstindung durch Interessenwägung, ebenda, 713. 

— Gesetz und Riditennacht, ebenda, 1018. 
Stern berg, AUgemeine Rechtslehre, U 1904. 
Wurzel» Das juristische Denken, 1904. 
Zilelmann, Lücken im Recht, 1903. 

Hierzu kommen noch zahlreiche gelegentliche Äußerungen, be- 
sonders bei Jeüinek (zuletzt Allgemeine Staatslehre?. Aufl. (1905) 50, 51, 
347—351) und Kohler (zuletzt Lehrbuch des B. G. B. 1 (1904) 82-85, 
111-113, 126—133), ferner bei A. Menger, Huber, Dohna, Dernburg, 
E. J. Bekker, OertoMuin, Kuhlenbeck und vielen anderen Juristen; 
femer Philosophen wie Wundt, Brentano u. a. 

C. F. WinUsntiie BuchilnickCKi. 



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